: Ein Erzengel zu Besuch bei Stalin
Am 17. November 1973 begann in Griechenland die letzte Phase der Militärdiktatur. Mikis Theodorakis war damals der prominenteste Vertreter des Widerstands gegen die Obristen. Der Musiker hat sich inzwischen von der orthodoxen Linken abgewandt. Aus seiner Autobiographie kann man erfahren warum
Von Niels Kadritzke
Er wollte stets viel mehr sein als nur Komponist und Musiker. Mikis Theodorakis hält sich immer wieder und immer öfter für einen Politiker, für einen Dichter und Denker, ja für einen Philosophen. Und im tiefsten Herzen muß er sich als homo universalis fühlen. Wahrscheinlich aber ist es nur so, daß er im Gegensatz zu anderen Künstlerkollegen offener und unverblümter einen Universalgenieverdacht gegen sich selbst entwickelt. Und damit ist er mit seinem Ego an einen Punkt gekommen, an dem Größenwahn schon wieder sympathisch wird.
Als Dichter, Denker, Politiker fordert man jedoch nicht Stimmungen, sondern Meinungen und kritische Urteile heraus. Das gilt zumal für einen Politiker, der biographisch ein umfassendes Spektrum unterschiedlicher Positionen durchwandert hat. Theodorakis begann als stalinistischer Kommunist, wurde im Widerstand gegen die Militärdiktatur zum demokratischen Sozialisten, schwenkte nach dem Sturz der Junta kurz nach rechts, bevor er eine eigene linke Partei gründete. Als aus der nichts wurde, kehrte er zur keineswegs poststalinistischen griechischen KP zurück, um am Ende, nach kurzem Gastspiel bei der linkspopulistischen Pasok, erneut bei der rechten Nea Dimokratia zu landen – als Minister ohne Geschäftsbereich, vor allem aber als prominentes Aushängeschild der Konservativen Griechenlands, die in ihm plötzlich einen ehrenwerten Sohn des Landes entdeckten.
Für jede Kurve in seinem politischen Leben hat Theodorakis eine Begründung gefunden, die keineswegs als albern abzutun ist. Aber etwas irritiert an diesen Begründungen immer. Er hat sie stets mit derselben hundertprozentigen Gewißheit vorgetragen. Und alle hatten den gleichen Kern: Mikis Theodorakis will Griechenland erretten, ganz allein nötigenfalls.
Von dieser selbstlosen Haltung zeugt auch die Aussage in einem Interview, in dem er seine Empfindungen in der dunkelsten Stunde Griechenlands seit dem Bürgerkrieg (1946 bis 1948) schilderte. Am 21. April 1967 putschte die Athener Junta der Obristen und errichtete eine über sieben Jahre andauernde Militärdiktatur. Der Musiker Theodorakis hatte für die Mobilisierung der griechischen Linken in den sechziger Jahren tatsächlich eine große Rolle gespielt. Deshalb wurde er nach dem Putsch unverzüglich von der Sicherheitspolizei verhaftet.
Er hatte allen Grund zu tiefer Verzweiflung, wie alle seine linken Genossen. Doch Theodorakis war noch verzweifelter, weil er seinen historischen Einsatz verpaßt hatte. Es war ihm nicht vergönnt gewesen, die Diktatur zu verhindern: „Ich war der einzige, der die Chance hätte wahrnehmen können“, bekennt er bescheiden. Man glaubt ihm sofort, daß er es selber glaubt. Vor allem, wenn man die Autobiographie von Theodorakis studiert hat, deren erster Teil auf deutsch erhältlich ist.
Dieses Buch ist – ohne Ironie – zu empfehlen. Es gibt wenige Texte – und keine Erinnerungen seit Alma Mahler-Werfel –, die ähnlich mißlungen und dennoch so lesenswert wären wie das, was Mikis Theodorakis über die ersten 25 Jahre seines Lebens aufgeschrieben hat.
Warum mißlungen? Der Text hat weder Form noch Stil. Die wichtigste Frage bleibt durchgehend offen: Will der Autor als abgeklärter Mensch zurückblicken oder eine wildbewegte Jugend voll politischer Leidenschaften im Originalton wiederaufleben lassen? Die Sprache ist selten nachdenklich und präzise, oft kitschig und schwiemelnd, zuweilen sexistisch. Wer die griechische Geschichte nicht schon im Kopf hat, verirrt sich in einem Spiegelkabinett von Vor- und Rückblenden.
Diese Einwände wären fehl am Platze, wenn Theodorakis keine literarischen Ambitionen hätte. Aber er hat. Tatsächlich wurde ihm für diesen Text der griechische Staatspreis für Literatur verliehen. Das wäre ein peinliches Urteil über die zeitgenössische griechische Literatur, wenn man nicht annehmen dürfte, daß nicht das Buch gewürdigt werden sollte, sondern der berühmte Komponist und verdiente Zeitgenosse.
Als solcher ist Theodorakis auch dem deutschen Publikum bekannt. Was kann es aus diesem Buch über den Komponisten und Sänger der griechischen Linken erfahren, der wie kein zweiter den Widerstand gegen die griechische Militärjunta verkörpert hat?
Eine der verblüffendsten Erkenntnisse betrifft den Komponisten. Theodorakis macht klar, daß der ganze Ehrgeiz – nicht nur seiner jungen Jahre – darauf gerichtet war, als Komponist von „ernster“ Musik respektiert zu werden. Von Schubert, Brahms und Beethoven angerührt, wollte der junge Mikis ein Komponist in der Tradition der europäischen Klassik werden. Und auch später, als er am Athener Konservatorium Komposition studierte und der kommunistischen Jugend Epom beitrat, sah er sich eher als künftiger griechischer Schostakowitsch und nicht als Protagonist einer „künstlerischen Volksmusik“, als der er weltberühmt wurde. Hier haben wir ein frühes Beispiel für die Tragik des Mikis Theodorakis. Er vergleicht sich immer wieder mit Größen, an denen er sich nicht messen müßte – und denen er auch nicht gewachsen ist.
Ein zweiter Punkt stört fast noch mehr: Im Hinblick auf seinen späteren Ruhm klingt das Urteil über die Rembetikomusik, der Theodorakis in jungen Jahren in den Armenvierteln von Athen und Piräus begegnete, auf elitäre Weise ungnädig, ja intolerant. Die Texte dieser Lieder qualifiziert er als „rüde und seicht“, die Melodien stecken „in einer für uns unakzeptablen Hülle“. Erst der spätere Theodorakis habe „die Schönheit der Volksmusik von den Zwängen der Subkultur lösen müssen“.
Mikis der Prinz, der die subproletarische Rembetikomusik wachküssen und ihr damit zu einer edleren Gestalt verhelfen durfte? Er meint es ernst. Dem abschätzigen Urteil würden sich viele Musikforscher nicht anschließen. Noch in diesen ja schon 1987 verfaßten Memoiren spürt man den Vorbehalt des jungen Kommunisten gegenüber Liedern, deren einfacher, aber oft sehr poetischer Flüchtlings- und Haschischfatalismus den revolutionären Ansprüchen der griechischen Stalinisten nie genügen konnten.
Womit die nächste Einsicht dieses Buches frei wird. Das politische Wesen Theodorakis berichtet bewundernswert ungeschützt von dem parteifrommen Genossen Mikis, der er in seiner Jugend gewesen ist. Der sich seinen ersten Opernstoff ausreden ließ, weil er mit der Parteilinie unvereinbar war. Der beim Bruch zwischen Tito und Stalin nicht eine Sekunde schwankte: „Unser Glaube an Stalin und die KP Griechenlands war so absolut, daß wir keinen Beschluß in Frage stellten.“
In der Rückbesinnung schildert uns Theodarikis eines der stärksten Beispiele für absurde Parteigläubigkeit, die in der biographischen Literatur zu finden sind. Als der junge Kommunist im Folterlager die erniedrigenden Qualen nicht mehr aushält, trifft er einen Wächter, der es nicht mehr aushält, KZ-Aufseher zu sein. Der überredet ihn zur gemeinsamen Flucht. Aber Theodorakis muß zuerst die Parteileitung fragen, die auch im Lager über die Genossen gebietet. Die Auskunft ist negativ. Der Häftling muß dem Wächter den rettenden Plan ausreden.
Die Szene spielt in Makronissos. Auf der berüchtigten Insel war Theodorakis zweimal allen Demütigungen ausgesetzt, die das Athener Regime während des Bürgerkrieges gefangenen Kommunisten zufügte. Der Terror sollte sie dazu bringen, „Widerrufe“ zu unterschreiben. Um „tätige Reue“ zu demonstrieren, mußten sie als Schläger auf die noch nicht gebeugten Gefangenen losgehen, so wie man sie nach ihrer Entlassung zur entscheidenden „Bewährungsprobe“ zwang, zum bewaffneten Kampf gegen ihre ehemaligen Genossen.
Die Schilderung der Schrecken von Makronissos ist kaum auszuhalten. Dieser Abschnitt wäre sogar eindringliche Literatur, wenn sich Theodorakis auf die erlebte Realität beschränken würde. Aber er fügt eine zweite Erlebniswelt hinzu, die er damals angeblich dazuphantasierte, um die Hölle durchstehen zu können. Das hat den Effekt, daß die Leiden zur Kulisse für die Selbststilisierung des Autors werden.
Höhepunkt dieser Stilisierung ist das Kapitel, das in einem halluzinierten Kremlhimmel spielt. Vom Erzengel Michael hinaufgetragen, darf der Kommunist Mikis zitternd und zagend vor Stalin, Trotzki und andere Götter treten. Doch dann verwickelt der tapfere Parteisoldat den Diktator in einen Dialog, der für Stalin auf eine Art Jüngstes Gericht hinausläuft. Theodorakis, das politische Genie, kann im Kremlhimmel alle moralischen Vorbehalte gegenüber dem Kommunismus vortragen und sich damit zu einem historischen Reflexionsstand aufschwingen, den er auf Makronissos gar nicht haben konnte – wie der Autor als Eigenbiograph selbst eindringlich geschildert hat.
Womit wir wieder beim Bild vom ewigen Universalgenie sind. Er hält es offenbar im Kopf nur schwer aus, historisch auch einmal geirrt zu haben. Von Irrtümern ist in diesen Memoiren nur selten die Rede. „Jede Epoche hat ihren Preis“, schreibt der Zeuge einer blutigen Zeit und fügt hinzu: „Immer wird von dir verlangt, dich kreuzigen zu lassen, um wieder auferstehen zu können.“
Es klingt, als hätte Theodorakis immer noch Heilserwartungen. Im Namen einer Partei. Aber vor allem in eigener Sache.
Niels Kadritzke, 55, ist Journalist in Berlin
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