: Was anderes als Schwanensee
■ Die neue ehrgeizige Kür des Eistanzpaares Peggy Schwarz und Mirko Müller interpretiert das Thema Gewalt gegen Frauen und wurde mit Hilfe eines Berliner Frauenhauses konzipiert
Gelsenkirchen (dpa/taz) – Verlieben, verschlagen, verzeihen, verlassen: Peggy Schwarz (24) und Mirko Müller (27) zeichneten beim Grand Prix in Gelsenkirchen eine hochambitionierte Kür aufs Eis. Gewalt gegen Frauen – ein gesellschaftspolitisch so brisantes Thema hatte zuvor noch kein Paar interpretiert. Die Sprung- und Wurfprobleme, mit denen die beiden Berliner zum Saisonstart zu kämpfen hatten, schmälerten jedoch etwas den Stolz der WM- Dritten. „Es war – wie jeder gesehen hat – sportlich nicht das Beste“, räumte Peggy Schwarz ein. Mirko Müller meinte: „Wir wußten selbst, daß es schwierig ist, ein so sensibles Thema umzusetzen.“ Immerhin würdigten die Preisrichter den Auftritt mit dem zweiten Platz hinter dem russischen Paar Maria Petrowa/Alexej Tichonow – sehr zur Freude einer kleinen Delegation vom Ostberliner Frauenhaus „Bora“.
Anke Linnemann, Diplompädagogin im „Bora“, erhielt am 2. September den Anruf eines gewissen Mirko Müller. „Ich wußte gar nicht, wer das ist.“ Seitdem stehen Anke Linnemann und die Erzieherin Irene Noack mit den beiden Eiskunstläufern in engem Kontakt. Die Idee, das Thema aufzugreifen, hatte die Choreographin Diana Goolsbey, zugleich Müllers Lebensgefährtin. Der Sportler selbst sah „keinen Sinn“ darin, immer wieder zu den Klängen von „Schwanensee“ zu laufen.
Von den Frauenhaus-Mitarbeiterinnen wollten die Olympia- Neunten wissen: Ist das überhaupt realistisch, was wir hier zeigen? Welche Gestik wirkt glaubwürdig? Den Sozialarbeiterinnen wurde schnell klar, daß Schwarz und Müller nicht auf einen billigen Werbegag aus waren. „Die Ernsthaftigkeit war von Anfang an zu spüren“, sagte Linnemann. Als sie die Kür zum ersten Mal sahen, erzählte Irene Noack, „sind uns die Tränen gekommen“.
Am Samstag erlebten Anke Linnemann, Irene Noack und Christof Gutsch, der Hausmeister bei „Bora“, mit einem Plakat („Frauenhaus Bora fiebert mit Peggy und Mirko“) und vier Blumensträußen ausgerüstet, die erste Eiskunstlauf-Veranstaltung ihres Lebens. Im Frauenhaus in Berlin, das 1990 das erste in den neuen Bundesländern war und inzwischen 60 Plätze hat, saßen die meisten Bewohner vor dem Fernseher. „Daß so bekannte Leute sich dieses Themas annehmen“, erklärte Anke Linnemann, „hat den Frauen sehr viel Würde gegeben.“
Müller hatte sich für die neue Kür nach dem Soundtrack von „Broken Arrow“ extra die blonden Haare schwarz färben und einen Bart wachsen lassen. Autobiographisches arbeiten die beiden jedoch nicht auf. „Weder wurde Peggy geschlagen noch habe ich jemals einer Frau Gewalt angetan“, stellte er klar. In der Arena streichelt er seine Partnerin, zieht sie an sich heran, stößt sie fort und erhebt die Hand gegen sie. Am Ende „schlägt“ sie zurück und entfernt sich von ihm. Doch trotz aller szenischen Dramatik dominieren die Sprünge: Schließlich registrieren die Preisrichter Patzer genauer als große Gesten. Und die gab es noch reichlich, da vor allem Peggy Schwarz nach einer Adduktorenzerrung und einer Ellenbogenprellung nicht vollständig fit war. Sie stürzte beim Doppel-Axel, den Wurf-Salchow und den Toeloop zeigten die Olympia-Neunten nur einfach statt dreifach.
Für die 1.500 Zuschauer in der Emscher-Lippe-Halle war ohnehin die künstlerische Gestaltung der schwierigen Thematik wichtiger. „Es ist schon ein höherer Anspruch, dem wir uns stellen“, sagte Müller. Ein zu hoher? Trainer Knut Schubert hatte keine Bedenken, „weil die technische Komponente bei beiden ausgereift ist“. Dem Frauenhaus haben Schwarz/ Müller jedenfalls einen Riesengefallen getan. Ob das auch für ihre sportliche Karriere zutrifft, werden sie spätestens nach den Europa- und Weltmeisterschaften wissen. „Es gab Kritiker“, sagte Müller. „Aber wir versuchen, über dem Ganzen zu stehen und das Beste daraus zu machen.“
Ein Teil ihres Preisgeldes von Gelsenkirchen (18.000 Mark) wollen Schwarz/Müller „Bora“ zukommen lassen. „Wir wollen nicht nur etwas Schönes zum Anschauen bieten, sondern auch etwas mitteilen und helfen“, sagt Mirko Müller. Dabei sind die beiden keineswegs die reichen Sportstars, die sich die Frauenhaus-Mitarbeiterinnen vorgestellt hatten: Trotz ihres dritten WM-Platzes stehen die Paarläufer derzeit ohne Manager da. Die Bundeswehr-Angehörigen haben lediglich ein Friseurteam und ein Autohaus als Sponsoren. Müller: „Wir machen nicht den Sport, um super viel Geld zu verdienen. Grundsätzlich laufen wir für die Leute in den Hallen.“
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