: Eine echte Obdachlosen-Kommune
■ In Gröpelingen wird ein alter Laden umgebaut: Tagsüber soll hier die Redaktion einer Obdachlosen-Zeitung arbeiten, nachts werden die Räume zur Notunterkunft
In dem heruntergekommenen Ladenlokal im Gröpelinger Pastorenweg 141 herrscht das absolute Chaos. Hier wird gleichzeitig renoviert, geschlafen und die Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“ vertrieben. Anfang Dezember sollen die neuen Redaktionsräume, in denen ein lokaler Einleger für den Straßenfeger entstehen soll, fertig sein. Nachts wird sich der Laden in eine Notunterkunft für zehn Menschen verwandeln.
In dem großen Raum zur Straße hin sägen Freiwillige an langen Holzlatten. Um Heizungskosten zu sparen, wird die Decke tiefer gelegt. Dabei gibt es die Heizung noch gar nicht. Es ist saukalt in der neuen Geschäftsstelle der überregionalen Obdachlosenzeitung. Schon jetzt übernachten die Zeitungsverkäufer hier. Hinten, im Übernachtungszimmer, wurden die Matrazen notdürftig zusammengelegt, Kleider und Renovierungswerkzeuge liegen wild durcheinander. Auf den paar Quadratmetern, wo bald der Lokalchef der Obdachlosenzeitung seinen Schreibtisch hinstellt, türmen sich alte Möbel bis in Augenhöhe.
Vor der Baustelle parkt ein zwanzig Jahre alter Opel-Wohnwagen, der einzige beheizte Ort weit und breit. Der Selbsthilfeförderverein in Erbach, der die überregionale Straßenzeitung herausgibt, hat ihn zur Verfügung gestellt, bis auch in Bremen der Vertrieb der Zeitung funktioniert. Anfang Dezember wird der Wagen zu einer anderen Zeitungsgruppe nach Frankfurt am Main gefahren.
In dem Wohnwagen ist es eng. „Komm rein und mach die Tür zu“, sagt Marlene Dorfmann zu jedem, der anklopft und etwas will. Es riecht nach Hund und Zigaretten. In einer Ecke stapelt sich die neuste Ausgabe der Zeitung. Auf einer Pritsche über dem Fahrersitz liegt Manfred und rührt sich kaum. „Er braucht dringend einen Arzt“, sagt Marlene. Er hat Fieber. Wenn das so weitergeht, will sie den Notarzt holen.
Der Hund heißt „Baby“, Manfred ist ihr „Papa“. „Das ist das blanke Familienleben“, sagt die ehemalige Kindergärtnerin und Wachfrau, die erst im Sommer einen Selbstmordversuch mit Tabletten unternommen hat. „Wenn Ralf, mein Lebenspartner, mich da nicht rausgeholt hätte, wäre ich heute vielleicht nicht mehr." Jetzt ist sie bei der Obdachlosenzeitung für den Vertieb zuständig und die einzige Frau in dem Haufen. Jeder hier hat seine Geschichte des Scheiterns, aber auch die Chance zum Neuanfang. Ein Dutzend Obdachlose können inzwischen von dem Verkauf der Zeitung leben.
Seit dem Sommer wird der „Straßenfeger“ in Bremen auf den Straßen verkauft. In der neuen Ausgabe liegen ein paar Blätter mit Artikeln von Bremer Obdachlosen mit in der Zeitung, die sich so schnell wie möglich zu einem richtigen Lokalteil entwickeln soll. Es ist das erste Mal, daß Bremer Obdachlose ihre eigene Zeitung machen.
Im Übernachtungszimmer ist Platz für fünf Doppelbetten. Zehn Mark soll eine Nacht kosten, um Geld in die Kasse zu bringen. „Mit Frühstück“, fügt Marlene hinzu. Die Miete für die 70 Quadratmeter Ladenfläche wird mit dem Verkauf der Zeitung eingespielt. 660 Mark zahlen die Zeitungsverkäufer für die ehemalige Bäckerei, Kneipe, Videothek, Pommes-Bude. Auch ein Bordell war hier vor langer Zeit.
Bei der Renovierung der heruntergekommenen Räume müssen die Obdachlosen improvisieren. „Es fehlt an allem“, sagt Marlene, „vom Heizungsinstallateur über Computer bis hin zu Matrazen.“ Auf öffentliche oder kirchliche Hilfen verzichten die Obdachlosen bislang. Nur beim Grünen-nahen „Ökofonds“ wollen sie tausend Mark für die Renovierung beantragen. Noch bevor das Projekt richtig angelaufen ist, hat Marlene schon Angst vor einem „Maulkorb“ durch Geldgeber von außen. Die könnten ja Bedingungen für das Zusammenleben der Zeitungsmacher diktieren. Die Obdachlosen wollen sich lieber selber helfen.
Regeln gibt es bislang wenige für das Zusammenleben. „Heute gibt's keinen Alkohol in den Räumen“ sagt sie entscheidend zu einem der Helfer. Doch der Gelbe Sack vor der Tür ist voll mit Dosen. Daß Manfred es geschafft hat, zwei Wochen trocken zu sein, um als Zeitungsverkäufer losziehen zu dürfen, ist für sie schon ein Erfolg. Zwischen zwei Hustenanfällen wird Manfred munter: „Wenn ich vom Alkohol loskomme, dann nur durch meine eigene Kraft“. Marlene streichelt seinen Kopf. „An dem Tag, wenn du es vollständig schaffst, da gibt's Kaffee und Kuchen, Manni“. Marlene lächelt etwas zahnlos. „Wir wollen nicht viel: Nur von dem Verkauf der Zeitung leben können und ein paar Obdachlose von der Straße holen.“
Christoph Dowe
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