: Die Union in der „Hans-Jochen-Vogel-Phase“
Das Goldene Zeitalter der Konservativen ist vorüber. Der Mitte beraubt, pendeln sie zwischen Sozialorientierung und Wirtschaftsliberalismus. Eine Erneuerung kommt über die Länder, doch welcher Junge Wilde ist zuerst in der Lage, sie organisieren? ■ Von Norbert Seitz
Ob in der Union der Führungswechsel bewältigt wird, „ohne aus dem Tritt zu geraten“, oder der breite Schatten des Kanzlers nur Konflikte verdeckt habe, „die jetzt mit aller Wucht ausbrechen werden“, formulierten die Herausgeber im Nachwort am Tag nach der Bundestagswahl. Auch nach dem jüngsten Parteitag im Bonner Maritim weiß man nur wenig mehr: Die Partei ringt immer noch um Contenance, der Führungswechsel ging relativ glimpflich und ohne größere persönliche Blessuren vonstatten. Von der „noch weithin unbekannten Zeit nach Kohl“ war beim Ablösungskonvent noch nicht viel zu erahnen. Schäubles Kurs verspricht noch eine Weile „Kohlismus ohne Kohl“. Der von den Politologen Tobias Dürr und Rüdiger Soldt herausgegebene Sammelband über die Union danach hat nichts von seiner diagnostischen Brisanz eingebüßt.
Nahezu alle Texte kreisen um die stille Hoffnung auf die sogenannten Jungen Wilden in den Länderparlamenten. Dahinter verbirgt sich nicht selten die eher unrealistische Gründerillusion einer bürgerrechtlich reformierten Union mit schwarz-grüner Koalitionsperspektive. Wer als erster der Oftgenannten eine SPD-Bastion erobert – der Hesse Roland Koch im Februar 1999, der Hamburger Ole von Beust und Christoph Böhr in Rheinland-Pfalz 2001 oder der Niedersachse Christian Wulff 2002 –, hat wohl die besten Chancen, zum neuen Hoffnungsträger der Partei zu avancieren. Koch in Wiesbaden wird zwar vom Terminkalender, aber nicht von der Demoskopie favorisiert. Daß nicht nur der Dregger-Enkel sich kaum als liberaler Reformator eignet, entspricht dem gedämpften Optimismus des JU-Chefs Klaus Escher, der in einem Spiegel-Gespräch Ende 1994 bekannte, daß Kohl „weit progressiver“ sei als Teile des Parteinachwuchses. Für seinen strikten Kurs der europäischen Integration würde er in manchen nationalkonservativ dominierten Kreisversammlungen der Jungen Union nur schwer eine Mehrheit finden.
Daß die Jungen Wilden es bislang nicht vermochten, über ein neues Staatsbürgerschaftsrecht und den Einstieg in die ökologische Steuerreform schwarz-grüne Akzente zu setzen, unterstreicht Hans Monath vom Allgemeinen Sonntagsblatt in seinem Beitrag über Karrierestrategien einiger CDU-Nachwuchspolitiker beim „Zeitgeistslurfing“ im Bundestag. Die Beispiele von Stefan Schwarz und Michel Friedman hätten gezeigt, „daß Nichtanpassung und öffentlicher Widerspruch gegen die Politik der eigenen Parteiführung in der CDU von Delegierten schnell abgestraft werden“. Mediengewandte Jungpolitiker wie Peter Altmaier oder auch Friedbert Pflüger hätten beim Thema doppelte Staatsbürgerschaft zum Spott von Rot-Grün gegen die eigene Überzeugung gestimmt.
Vorläufig gehört die von Christoph Wagner erzählte Geschichte über die Pizza-Connection schwarz-grüner Gesprächszirkel von jüngeren Abgeordneten im Deutschen Bundestag der Vergangenheit an. Der schwarz-grüne Charme reicht noch nicht über eine Soziverhinderungsallianz in roten Filzregionen des Ruhrgebiets hinaus.
Die Bonner Union befindet sich derzeit in der bitteren Hans-Jochen-Vogel-Phase der wundenleckenden Frühopposition. Weicht sie vom strikten Europakurs ihres langgedienten Eurokanzlers ab wie einst die SPD vom Nachrüstungskurs Helmut Schmidts? Folgt sie gar der neuchristlichen Kreuzzugsideologie, wie sie CSU- Querdenker Gauweiler jüngst im Focus der geschlagenen Union empfahl. Schleift sie noch mehr die sozialpolitischen Bastionen Norbert Blüms? Tritt sie in einen Konkurrenzkampf mit Bodo Hombach und Guido Westerwelle um die intelligentere Modernisierungsstrategie? Als „Riesen-FDP“ kann sich zumindest Mitautor Bernd Ulrich die Volkspartei CDU kaum vorstellen.
Aber was gilt schon als sicher am „Ende des christdemokratischen Zeitalters“, wie es von den Göttinger Politologen Franz Walter und Frank Bösch diskutiert wird. Stiftet das hohe „C“ noch jene Nachkriegsidentitäten, die für eine „illusionslose, pragmatische und flexible Politik“ stehen und einen „überzeitlich verankerten Wertekatalog“ anbieten, mit dem einst die „Mitte“ im Sturm und ohne ernsthafte Konkurrenz erobert wurde: „Die Christdemokraten nahmen das Volk mit, strengten es nicht zu sehr an, muteten ihm nicht zuviel zu. Ihr katholisches Weltbild bewahrte die CDU vor jedem ideologischen Eifer in irdischen Fragen.“ Doch der breite Fundus scheint für die Zeit nach der Jahrhundertwende nicht mehr auszureichen. Die antisozialistische Ressource taugte nicht mehr für die Neuauflage von Hintzes Rote-Socken-Kampagne. Der Union gingen Feindbild und Regierungsmacht verloren. Dies war schon 1969 so, als Brandts Entspannungspolitik begann. Erst mit der Re-Ideologisierung der SPD nach 68 habe eine „neue Mobilisierungs- und Organisationsdynamik im protestantischen Bürgertum“ zugunsten der Union eingesetzt.
Nicht mehr verläßlich ist aber auch die demographische Ressource – die Rentner! –, über die die Union noch bis Mitte der 90er Jahre mehrheitlich verfügte. Als drittes Moment kommt die Erosion des Katholischen hinzu: Große Teile der Nachwuchseliten des katholischen Milieus seien in den 80er Jahren bei den Grünen gelandet: „Die katholischen Wurzeln der CDU verdorrten“ – erst in Nordrhein-Westfalen, dann im Saarland, schließlich in Rheinland- Pfalz. Unter Kohls Regentschaft geriet die Partei in eine Schieflage, das Goldene Zeitalter der Schwarzen ist vorüber.
Auch Bernd Ulrich vom Berliner Tagesspiegel sieht die CDU „als Partei ohne Grund“. Seine Beobachtungen führen am deutlichsten vor Augen, wie sehr die Union zwischen zwei Polen – „dem Erhalt gesellschaftlicher Bindung bei Entfesselung der Produktivkräfte“ – immer weiter auseinanderdriftet. Wirtschaftlicher Progressismus und gesellschaftlicher Konservatismus scheinen unvereinbar. Mobilität beiße sich mit Heimatverbundenheit und Ökologie, Flexibilität mit Familiarität.
Die Erneuerung der Union wird aus den Ländern und Kommunen erwartet. Welch steinige Wege dabei beschritten werden müssen, unterstreicht der Text des Herausgebers Tobias Dürr über die schillernden Reformversuche der Hamburger CDU. In der Hansestadt, wo immer noch die Redensart „Der lügt wie ein Katholik!“ zum Sprachalltag zählt, führte die weißbesockte Opposition unter Didi Rollmann zum Aufstieg der Generation Echternach – Volker Rühe oder Birgit Breuel gingen daraus hervor, Leisler-Kiep wurde ihr liberaler Vorzeigekandidat. Eine eher ernüchternde Erfolgsbilanz, daß die Partei dank oder trotz des geheimbündlerischen „Magdalenenkreises“ ihres unheimlichen Vorsitzenden einer Machtübernahme näher war als in der Zeit nach dessen Ablösung.
Ein weiteres, eher entmutigendes Beispiel liefert Konrad Schuller für die Berliner Frontstadt- CDU, wo alle Pöstchen vergeben und sämtliche Pfründen erschöpft zu sein scheinen. „Die Pfaffen, die Banken, Kohl“ – soll einmal einer der wenigen DDR-Aufsteiger im CDU-Landesverband Berlin das Image im Osten beschrieben haben. Die Mitgliedschaft ist kläglich; alle elf östlichen Kreisverbände wiegen zusammen gerade einen einzigen im Westen auf. Kein Wunder also, daß die letzte Bundestagswahl im Osten entschieden wurde. Rüdiger Soldt beschreibt am sächsischen Weg, wie man dort noch 1993 über eine schwarz-grüne Koalition und die Frage diskutiert habe: „Könnte sich die CDU mit den Ideen der Bürgerrechtler wertkonservativ erneuern?“ Doch Biedenkopfs Vorzeigedissi, Arnold Vaatz, sitzt heute nicht mehr in der Staatskanzlei, sondern im Umweltministerium, „wo er Abfallordnungen entwirft und über Laichplätze für Frösche nachdenkt“. Im Osten ist keine christkonservative Volkspartei in Sicht.
Den einzigen Hoffnungsschimmer liefert Tanja Busse mit ihrem Generationsbefund, wonach die zeitgenössische Jugend mit Attributen der Generation X oder „Tugenden der Orientierungslosigkeit“ nicht hinreichend beschrieben werden könne: „Eher kennzeichnet das Fehlen großer gemeinsamer Ideen die Jugend der neunziger Jahre, ihre Indifferenz. Was sie eint, ist ihre postideologische und pragmatische Haltung. Sie kennen weder gesamtgesellschaftliche Utopien noch den No- Future-Nihilismus.
Tobias Dürr/Rüdiger Soldt (Hrsg.): „Die CDU nach Kohl“. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1998, 224 Seiten, 18,90DM
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