: „Der Ehrlichste wird bisweilen unehrlich“
■ Dieter Ondracek, Vorsitzender der Deutschen Steuergewerkschaft, fordert Rot-Grün auf, die Giftliste der legalen und illegalen Steuerschlupflöcher beträchtlich zu erweitern
Dieter Ondracek ist Steuerfahnder, Vorsitzender der Deutschen Steuergewerkschaft (DStG, Beschäftigte der Finanzbehörden) und Mitglied im Vorstand der Europäischen Steuergewerkschaft (UFE)
taz: Nach den Koalitionsverhandlungen veröffentlichte die rot-grüne Regierung eine „Giftliste“ mit 70 Steuerschlupflöchern. Was halten Sie davon, daß weder in dieser Liste noch im Koalitionsvertrag das Problem der Steuerhinterziehung auftaucht und daß zudem wichtige Formen der Steuerumgehung fehlen?
Dieter Ondracek: Ich hoffe, man kann das mit der sehr knappen Verhandlungsdauer erklären. Die SPD hat übrigens vor der Wahl ein eigenes Programm aufgelegt: „Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Wirtschaftskriminalität“.
Welche Steuerschlupflöcher fehlen in der „Giftliste“ der rot- grünen Bundesregierung?
Bei den legalen Schlupflöchern beispielsweise die Doppelbesteuerungsabkommen. Auf diesen Abkommen beruhen zahlreiche Modelle zur Steuerumgehung, denn wenn im Ausland versteuert wird, dann ist das Einkommen bei uns voll freigestellt. Das führt dazu, daß Unternehmen möglichst viel ihrer Gewinne in Niedrigsteuerländer verlagern. Die Doppelbesteuerungsabkommen müssen dringend gekündigt werden. Die Steuerausfälle durch Gewinnverlagerung summieren sich immerhin auf etwa 20 Milliarden Mark jährlich.
Die EU-Finanzminister, damals noch mit Bundesfinanzminister Theo Waigel, haben die baldige Verabschiedung von zwei Maßnahmepaketen zur Harmonisierung der Unternehmenssteuern und der Zinsbesteuerung von Privatanlegern angekündigt. Was ist daraus geworden?
Luxemburg, das bisher hart gegen eine Zinsbesteuerung oder gar gegen Kontrollmitteilungen war, hat jetzt grundsätzlich seine Zustimmung zu einer Harmonisierung erklärt. Aber dazu bereit sind die Luxemburger nur unter der Bedingung, daß andere Steueroasen auch dichtgemacht werden. Gemeint sind damit Firmenkonstruktionen wie die sogenannten Coordination Center in Belgien und in den Niederlanden. Dorthin könnten Konzerne ihre Finanzgeschäfte auslagern, um in den Genuß äußerst günstiger Steuern zu kommen.
Wann gibt es darüber eine europäische Einigung?
Man könnte optimistisch sagen: Die Erkenntnis ist gewachsen, daß alle Schlupflöcher dichtgemacht werden müssen. Es könnte aber auch einfach eine taktische Variante der luxemburgischen Regierung sein, um so Verbündete in der Abwehr gegen eine Steuerharmonisierung mit ins Boot zu ziehen. Mit der Abwehr der Zinsbesteuerung stand Luxemburg bisher alleine da. Jetzt hat es mit Belgien und den Niederlanden, die ihre Coordination Center behalten wollen, weitere Verbündete erhalten.
Die Europäische Steuergewerkschaft kritisiert die „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ bei den Steuern. Was ist damit gemeint?
Lohnabhängige werden ganz anders behandelt als Unternehmen und Freiberufler. Der am schärfsten Besteuerte ist der Arbeitnehmer, bei ihm ist der Quellenabzug gut organisiert, er wird in allen EU-Ländern sehr streng überwacht. Dagegen müssen auf seiten der Unternehmer und Freiberufler die Steuerpflichtigen ihre Einkünfte und Gewinne zunächst selbst deklarieren. Hier müßte konsequenterweise die Kontrolle schärfer sein, denn jeder kommt in Versuchung, wenn er keine Kontrolle befürchten muß. Da wird der Ehrlichste bisweilen unehrlich. Wir klagen jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht gegen diese Ungleichbehandlung.
Ungerechtigkeiten monieren Sie auch bei der Umsatzsteuer in der EU. Die Europäische Steuergewerkschaft sieht hier gar ein „Einfallstor für Wirtschafts- und Steuerkriminalität“.
In den Ländern der Europäischen Union haben wir den Konstruktionsfehler, daß die Mehrwertsteuer nach dem sogenannten Bestimmungslandprinzip erhoben wird, also dort, wo der Endverbrauch stattfindet. Wenn sich Produktion und Konsum im selben Land abspielen, spielt das keine Rolle. Eine Lieferung aber von Deutschland nach Frankreich wird bei uns steuerfrei belassen, in der Annahme, daß sie in Frankreich versteuert wird. Wegen beträchtlicher Kontrollücken gibt es aber häufig überhaupt keine Besteuerung. Zweitens gibt es Betrug beim Abzug der Vorsteuer. Da liefert so manche Firma dreimal quer durch Europa, das sind alles steuerfreie innergemeinschaftliche Umsätze. In jedem Land wird eine Scheinfirma dazwischengeschaltet, die Rechnungen ausstellt, Steuern ausweist, diese Steuern aber nie abführt.
Bei den jetzt aufgedeckten Fällen geht es um 20 bis 30 Millionen Mark Vorsteuerbetrug. Wir wissen, daß sie nur die Spitze des Eisbergs sind. Interview: Werner Rügemer
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