Schröder auf Honeckers Parkett

Im Sommer ist der Ort ein Rummelplatz, gestern gastierte der Bonner Politzirkus am Berliner Schloßplatz. Im früheren Gebäude des DDR-Staatsrats traf sich das Bundeskabinett zu seiner ersten Sitzung in der Hauptstadt  ■ Aus Berlin Philipp Gessler

Nein, das Fahrrad darf hier nicht stehen! Die Polizistin springt aus dem Mannschaftswagen auf den Schloßplatz, das Rad würde sonst untersucht und fotografiert: Hier am Haupteingang des Ex- Staatsratsgebäudes – schräg gegenüber des asbestverseuchten Palasts der Republik – sei der Sicherheitsbereich, bitte das Rad an die Seitenwand.

Unruhe wabert an diesem nebligen Novembertag über den Schloßplatz, auf den nur alle paar Monate so was wie Leben kommt, wenn Rummelplätze das Volk anlocken. Heute tagt hier das Bundeskabinett zum ersten Mal in Berlin. Auf der Tagesordnung steht ein Beschäftigungsprogramm für 100.000 Jugendliche und die Expo 2000, aber das interessiert kaum jemanden, denn: „das ist der Beginn der Berliner Republik“, wie Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul später sagt.

Ein paar Sicherheitsleute mit Funkgeräten hasten durch den Eingangssaal mit dem riesigen dreidimensionalen Modell der Berliner Innenstadt samt allen neuen Regierungsbauten, die recht bald fertig werden sollen. Zwei Hunde, auf der Suche nach Bomben, hecheln mit ihren Herrchen vorbei, die junge Dame an einem Kaffeestand tauscht die Blumenbestecke gegen Adventskerzen. Ob sie heute dem Kanzler einen Kaffee bringen wird? „Mal sehen“, sagt sie, Altbundeskanzler Kohl habe sie schon mal einen serviert. Hat er Trinkgeld gegeben? „Muß ich darauf antworten?“ fragt sie.

Da kommt Oskar Lafontaine, der neue Finanzminister, viel zu früh, es ist 8.40 Uhr, das Kabinett soll erst um halb zehn im „Diplomatensaal“ tagen. Ist es für ihn ein historischer Tag? Ob man das so „hochhängen“ müsse, murmelt er, schon ist er weg, hinauf die große Treppe, die Stufen bespannt mit rotem Teppich.

Er geht vorbei am Glasfenster- Kitsch über den Sieg des Sozialismus. „Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm“, steht neben heroischen bunten Arbeitern und Soldaten aus Glas. Sie rahmen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ein, der vom Haupteingang aus, einem früheren Portal des nach 1945 abgerissenen Stadtschlosses, die „freie sozialistische Republik Deutschland“ ausrief (zu spät und vergeblich).

Ab Herbst kommenden Jahres wird das Kabinett hier regelmäßig tagen, im Staatsratsgebäude, wo einst Erich Honecker selig arbeitete. Für die Minister auf dem Weg zum neuen Kabinettssaal ist Honeckers Büro nur Durchgangszimmer; der Kabinettstisch, gefunden im Keller des 60er-Jahre-Baus, stammt noch aus DDR-Beständen. Nach dem Umzug der Regierung wird Kanzler Schröder so lange hier arbeiten, bis der Kanzlerneubau im Spreebogen fertig ist, wahrscheinlich im Sommer des Jahres 2000.

Der neue Verteidigungsminister Scharping stakt durch den Saal, auch er sieht‘s nüchtern: Ihm mache es nichts aus zu tagen, wo Honi schon regierte, schließlich gebe es in Berlin kaum ein altes Gebäude ohne die „gebrochenen Spuren“ der Geschichte.

Jetzt kommen die Minister Schlag auf Schlag. Ministerin Wieczorek-Zeul gibt vor den Kameras einem Sicherheitsmann und dem Nippes-Verkäufer am Eingang die Hand. „Schon toll“ sei es, hierher zu kommen; Honeckers altes Haus werde „jetzt sinnvoll genutzt“. Wirtschaftsminister Müller („ein großes Gefühl“) erscheint, dann Familienministerin Bergmann („ich freue mich sehr“) und – die 35 Fotografen und Kameraleute bilden einen Klumpen um ihn vor dem Eingang – Gerhard Schröder: „Ick bän ein Bärlina“, witzelt der Kanzler.

„Ich bin viel zu müde, um historische Gefühle zu haben“, nuschelt der neue Außenminister Joschka Fischer, der ihm folgt, auf dem Weg zum Kabinettssaal, er habe nur vier Stunden geschlafen.

Schließlich kommt Agrarminister Funke, mit Verspätung, die Zigarre in der Hand und schnaufend. Er sei immer für Berlin als Regierungssitz gewesen. „Das Kabinett hat schon angefangen“, mahnt ihn seine Referentin. „Ich muß da jetzt rein“, sagt er beim Gehen – dann ist es wieder ruhig. Die Bedienung im Bistro hat Schröder keinen Kaffee bringen können, auch das Rad ist noch da. Gnädig verbirgt Nebel die Bauzäune auf dem Schloßplatz. Das ist also ein historischer Tag.