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Wenn junge Verlierer die Wut packt

Kinder ausländischer Eltern erfahren schon in der Schule massive Ausgrenzung. Mit Gewalt und markenbewußtem Auftreten versuchen sie sich Respekt zu verschaffen, gute Noten und eine Ausbildung rücken mangels Förderung in weite Ferne. Ein Teufelskreis  ■ Von Gerd Michler

In ihren Familien leben sie in der Welt der Türkei oder des Balkans. Kaum fällt die Haustür hinter ihnen ins Schloß, befinden sich ausländische Kinder mitten in Deutschland. Zwei Kulturkreise stoßen aufeinander. Dort, wo der Aufprall am größten ist, an der Schnittstelle zwischen Herkunftsland und Bundesrepublik, stehen die Kinder.

Seit dem Abschiebungsgezeter um den vierzehnjährigen „Mehmet“ in München gelten junge Ausländer als Inbegriff der Jugendgewalt. Dabei sind sie nicht anders als deutsche Jugendliche auch. Sie haben es nur oft schwerer. „Schon in der dritten Klasse erkennen viele ausländische Kinder, daß sie keine Chance haben“, so Manfred Bosl, Leiter der Münchener Initiativgruppe-Förderung ausländischer Kinder, Jugendlicher und Familien. Seiner Ansicht nach ist die deutsche Gesellschaft durch strukturelle Ausgrenzung geprägt.

„Angepöbelt werden türkische Schüler immer“, weiß die Augsburger Lehrerin Gaby Manner*. In ihren Hauptschulklassen stammt mehr als die Hälfte der Schüler aus der Türkei. „Die Ausländerfeindlichkeit macht den Kindern angst. Ihre eigene Kultur wird zum Strohhalm, an dem sie sich festhalten.“ Angst schürt Gewalt, und wer in der Ecke steht, kämpft härter um sein Recht auf Leben und Bildung, auf Anerkennung, Levi's-Jeans und Lederjacken von Diesel – notfalls mit Gewalt.

„Die Ausgrenzung beginnt bereits bei den Eltern“, meint Manfred Bosl, „die sind doch auch Außenseiter.“ Weil sie in der deutschen Gesellschaft keinen Platz finden, pflegen türkische oder exjugoslawische Familien Traditionen, Werte und Kultur ihrer Heimatländer um so intensiver. Familienfeste und religiöse Feiertage werden in der Fremde bewußter gefeiert als zu Hause.

„Manchmal besuchen bis zu 80 Prozent meiner Klassen auf Druck der Eltern die Koranschule“, erzählt Gaby Manner. Über Satellit aus den Heimatländern empfangene Fernsehprogramme ermöglichen es, türkischen oder serbischen Familien, auch in Deutschland am Geschehen in ihrer Heimat teilzunehmen. Ein professioneller Mail-Order-Dienst versorgt die Diaspora mit den Romanen des türkischen Bestsellerautors Ahmed Günbay Yildiz. In seinen Romanen habe er die „besten Regeln aufgeschrieben, damit die Leser wissen, woran sie sich im Leben zu halten haben“, erklärte Ahmed Yildiz im vergangenen September gegenüber dem Spiegel. Konkret heißt das: Moralisch unangepaßtes Verhalten wird mit Gewalt wieder in die richtige Bahn gelenkt.

Die Lebensumstände ausländischer Familien in Deutschland führen oft zu einer verzerrten Wahrnehmung ihrer kulturellen Wurzeln. Einkommens- und Wohnverhältnisse sind begrenzt. Viele türkische oder exjugoslawische Eltern beuten sich in der deutschen Arbeitswelt selbst aus. „Die Eltern kümmern sich fast nur um ihre Arbeit, vor allem die Väter und älteren Brüder“, erläutert Josef Bucher, Erster Kriminalhauptkommissar in München. Während Gewalt in den Heimatländern ein positives, legitimes Mittel ist, um gesellschaftliche Hierarchien zu untermauern, wird sie im Ausland oft zur einzigen Waffe gegen den Streß der kulturellen Herausforderung.

„Aus Wut und Ohnmacht teilen Väter oft Schläge aus, um die Strukturen in ihren Familien aufrechtzuerhalten“, kommentiert Manfred Bosl die Situation in zahlreichen ausländischen Familien. Im Zuge einer Befragung von 2.300 Schülern in Hamburg und Hannover brachten die Mitarbeiter des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen (KFN) in Erfahrung, daß türkische Kinder in ihren Familien rund dreimal häufiger geschlagen werden als deutsche Jugendliche.

Daß Kinder, die in ihren Familien Gewalt erleben, diese reproduzieren, ist nicht neu. Die Zahlen des KFN zeigen, daß ausländische Kinder diesem Teufelskreis weitaus stärker ausgesetzt sind als deutsche Jugendliche. „Schule erfahren türkische Kinder oft als diskriminierend, die Erziehung durch die Väter als Fremdzwang. Auf Ausgrenzung und Druck reagieren sie mit Gewalt“, berichtet Manfred Bosl. „Auch die Emanzipation von traditionellen Werten läuft über Gewalt, wenn dies argumentativ nicht mehr möglich ist.“

Im Umgang mit deutschen Jugendlichen werden junge Ausländer geschnitten. Sie fühlen sich ausgegrenzt, weil sie an deutschen Schulen nicht ausreichend gefördert werden und deshalb unter Versagensängsten leiden. Viele empfinden den Zusammenbruch ihres traditionellen, kulturellen Hintergrundes subjektiv als Armut. „Vor dem deutschen Leistungsprinzip weichen viele aus“, erklärt Dr. Hubertus Schröer, Leiter des Münchner Jugendamts. „Anerkennungskämpfe werden durch Dominanzverhalten in anderen Bereichen ausgetragen.“ Wo die Möglichkeit der Integration fehlt, bleibt oft nur die Gewalt. „Junge Türken oder Exjugoslawen stehen unter erheblichem Druck, Stärke markieren und sich beweisen zu müssen. Aus Angst, schwach zu sein, teilen sie oft den ersten Schlag aus.“ Manfred Bosl sieht das ähnlich: „Jugendliche sind da oft sehr konkret: Um mir Respekt zu verschaffen, schlage ich zu.“

Die Zahlen des KFN untermauern die Erfahrungen von Sozialpädagogen und Jugendbehörden. Waren vor acht Jahren noch rund 60 Prozent der jugendlichen Straftäter Deutsche, so kommen heute 62 Prozent aus ausländischen Familien. Doch wie die Kriminologische Forschungsgruppe der bayerischen Polizei in einer 1997 veröffentlichten Studie zur Kinder- und Jugendkriminalität feststellt, handelt es sich bei den ausländischen Tatverdächtigen zumeist um Jugendliche „ohne große Zukunftschancen und mit schlechten Integrationschancen in die Erwachsenenwelt“.

Der Teufelskreis von Ausgrenzung und Gewalt teilt ausländischen Kindern eine Doppelrolle zu. Sie sind Täter und Opfer zugleich. Aus der deutschen Gesellschaft kommen nur selten Hilfestellungen. Dies schon deshalb, weil auch deutsche Unterschichten von Ausgrenzung durch Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. „Viele sehen Ausländer heute als eine Bedrohung von Besitzständen, die in den achtziger Jahren gesichert erschienen“, erklärt Dr. Hubertus Schröer. „Dadurch kommt es zu weiterer Ausgrenzung. Das gilt auch für den politischen Bereich: Der Fall „Mehmet“ ist ein Beispiel dafür, wie die Menschenwürde für politische Zwecke mißbraucht werden kann. Letztlich haben wir es mit einer Gewaltspirale zu tun, die nicht nur von Ausländern getragen wird.“

Manfred Bosl verspricht sich gesellschaftspolitische Anerkennung vor allem von kollektiven Rechten unterhalb der politischen Mitbestimmung. „Warum werden ausländische Jugendvereine nicht mit der evangelischen Jugend oder deutschen Sportverbänden gleichgestellt? Weshalb gibt es einen Zentralrat der Juden in Deutschland, aber kein vergleichbares Gremium für Muslime?“

Die Integration ausländischer Kinder und Familien hat für den Münchener Sozialpädagogen nur dann eine Chance, wenn Bildung, Kultur sowie gesellschaftliche und politische Mitbestimmung als zentrale Eckpfeiler der Eingliederung ernst genommen werden. „Ausländer haben ein Recht darauf, daß die deutsche Gesellschaft ihre Werte und Traditionen nicht als Bedrohung ansieht. Vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, ob ein Kulturkreis, der die Familie in den Mittelpunkt stellt und Solidarität pflegt, dem Individualismus einer bürgerlichen Mittelschichtenkultur nicht mindestens ebenbürtig ist.“

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