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Warten in Mexiko auf den Jüngsten Tag

Auf ihrer Flucht vor religiöser Verfolgung erhielten die deutschstämmigen Mennoniten im Norden Mexikos Asyl. Die Erben der Wiedertäufer verweigern sich noch heute allem, was nach Sex und Sünde riecht. Viele ihrer Kinder haben mit religiöser Tradition jedoch nicht mehr viel im Sinn. Sie orientieren sich am Lebensstil der nahen USA  ■ Von Anne Huffschmid (Text) und Jens Holst (Fotos)

Die hölzerne Pforte ist verriegelt. Dabei ist es halb neun Uhr morgens, die Erntezeit vorbei – trotzdem findet in Neuendorf heute keine Schule statt. Ein paar Meter weiter werkeln einige Männer in der klirrend kalten Morgenluft. Ein Schwein wird in einen metallenen Trog gezerrt, der frische Geruch der Felder vermischt sich mit dem Gestank nach totem Tier. Beim Näherkommen ist unter den Männern auch der Dorflehrer zu erkennen, Hermann Peters. „Heute wird geschlachtet“, klärt der Mittdreißiger auf. Wir haben Mühe, dem altertümlichen Plattdeutsch zu folgen, soviel aber verstehen wir: Wenn geschlachtet wird, fällt der Unterricht aus.

Aber nicht nur dann. Beim letzten Mal waren es die eingefrorenen Wasserrohre. Davor mußte das gesamte Dorf zur Beerdigung eines am Vortag verstorbenen Nachbarn. Bei unserem ersten Besuch hatte der Lehrer das Klassenzimmer extra am Nachmittag aufgeschlossen. Lange Bänke in einem kühlen, flachen Raum, links für die Buben und rechts für Mädels, vorne das Lehrerpult auf einem kleinen Podest. Die Wände des Klassenzimmers sind kahl, einzige Verzierung ist ein Holzgerüst am Eingang, an dem säuberlich aufgereiht lauter rote und grüne Plastiktassen hängen.

Zwischen den Bänken flitzen vier Mädchen in geblümten Kleidchen herum, bis auf die kleinste tragen sie Kopftücher. Aus großen blauen Augen staunen sie die Fremden an, wortlos. Stolz zeigen sie ihre Hefte: sorgsam gemalte Reihen, in alten deutschen Lettern. Hier werden nur „christliche Verse“ geschrieben und gelernt. In einer einzigen Klasse sitzen die Kinder des Dorfes beieinander: die kleinen Fibler, die etwas älteren Testamentler und die Bibler, die Sechstklässler.

Abram Dyck lächelt in sich hinein. „Auf solchen Bänken habe ich früher auch gesessen“, sagt er, als er die Besucher aus dem Gebäude hinausgeleitet. Dyck, ein rundlicher Mann in den Vierzigern, lebt wie Peters und seine Schützlinge in der Mennonitensiedlung mitten in der nordmexikanischen Steppe, wo sich die deutschstämmige Glaubensgemeinde vor einem Dreivierteljahrhundert niedergelassen hatte.

Beide sind Lehrer – doch mehr haben die Männer nicht gemein. Der schüchterne Neuendorfer gehört zu den Altkoloniern, der strenggläubigen Traditionsfraktion unter den Mennoniten, die sich von der Welt und ihren Versuchungen so fern wie möglich halten will. Dyck, der im Kofferraum nicht die Bibel, sondern die neueste Ausgabe von Men's Health spazierenfährt, zählt zu den Erneuerern der Gemeinde.

Bis zu seinem elften Lebensjahr war auch er ein kleiner Fibler, erzählt er, während das Auto über den „Hochweg“ (so sagt man hier für Highway) in die Abenddämmerung braust. Hat Bibeltexte abgeschrieben und auswendig gelernt. Bis zum Aufbegehren des Vaters. Als gewählter Dorfprediger sollte Gerhard Dyck vor dreißig Jahrem nach altem Brauch auf die Gummireifen an seinem Trecker verzichten und fortan auf Eisenfelgen über die Äcker holpern. Er weigerte sich – und wurde nach und nach zum Außenseiter. So sah sich die Familie gezwungen, das Dorf zu verlassen und in die nächste Stadt zu gehen.

Dort erhielt Sohn Abram eine „richtige“ Schulbildung – und ist dennoch zurückgekommen. Heute leitet er die Schule von Blumenau, eines der 120 Dörfer der Kolonie, und möchte auf seine Weise dazu beitragen, das Mennonitentum mit der Moderne zu versöhnen.

Blumenau sieht nicht gerade aus wie etwas, was man gemeinhin als Dorf bezeichnen würde. Die lose Häuseransammlung ist Mennoniten wie Mexikanern ohnehin besser als „kilómetro 11“ bekannt – zusätzlich zu den altdeutschen Ortsbezeichnungen sind die „Dörfer“ als „Felder“ durchnumeriert oder werden schlicht nach dem nächsten Kilometerstein benannt.

Schotterstraßen führen links und rechts vom Highway zu vereinzelten Gehöften und Geschäften. Kurz dahinter liegt das apricotfarbene Schulgebäude, ein langgestreckter Flachbau, der mit spitzen Pinien akkurat umstellt ist. Hier richtet sich das Schuljahr nicht nach der Erntezeit, sondern nach staatlichen Vorgaben. Als eine von zwei mennonitischen Privatschulen ist die Alvaro-Obregón-Schule – benannt nach jenem Präsidenten Mexikos, der den frommen Siedlern einst ihr Land verkaufte – ins mexikanische Schulsystem integriert.

Zwar ist der staatliche Stundenplan um Fächer wie Kirchengeschichte, Religion und Deutsch erweitert, ansonsten aber lernen die Kinder hier wie in jeder anderen Schule Fremdsprachen und Biologie. Und im kürzlich eingerichteten Raum mit der Aufschrift „Computación“ sitzen ein paar ernst dreinblickende Jungen vor dem Bildschirm und klackern in die Tastatur. Informatik gehört hier inzwischen ebenso zum Lehrplan wie Sexualkunde – an den Traditionsschulen sei dagegen jede Rede vom Sex tabu, weil er nur ein „notwendiges Übel“ sei.

Unaufhaltsam sickert die spanischsprachige Außenwelt in den mennonitischen Alltag ein. Waren es früher nur wenige Männer, die die Geschäfte mit den mexikanischen Nachbarn in Spanisch abwickelten, so wird in Blumenau heute zweisprachig unterrichtet. Und für die Oberschüler ist Deutsch nur noch ein Wahlfach. Die Freiheit hat ihre Tücken: Immer öfter entscheiden sich die Jugendlichen statt für das exotische Deutsch für das näherliegende Englisch. „Die fragen nicht mehr, wodurch kann ich meine Kultur erhalten“, sagt Abram Dyck, „sondern eher: Bringt mir das Geld oder nicht?“ Er sagt das ein wenig wehmütig.

Eine der wichtigsten Geldquellen sind die mennonitischen Kühe. Auf dem Hof der alteingesessenen „Queseria América“ in Gnadenfeld (“Feld 2b“) verladen blonde Jungen Hunderte von Milchkannen, die von den Farmern aus der Nachbarschaft Tag für Tag herangekarrt werden. Heinrich Wiebe, ein alter Herr mit zerfurchtem Gesicht und blauem Overall, zeigt stolz seine Anlagen. Über sechzig Jahre alt sind die riesigen Aluminiumbecken, in denen die Milch verrührt wird – und sehen noch immer aus wie neu.

Auch sonst ist in den heiligen Hallen der Käserei trotz des beißenden Gärgestanks alles appetitlich blankpoliert. Wiebe gehört zu den Käsepionieren am Ort, schon 1932 hatte der Onkel den allerersten Mennonitenkäse hergestellt. Heute ist die Einheitsmarke sello de oro (“Goldsiegel“) einer der Exportschlager der Kolonie – bis in die letzten Ecken Mexikos wird der Käse vertrieben.

In Feld 81, einer Siedlung der Strenggläubigen Rheinländer, predigt seit über zehn Jahren Cornelius Wiebe, ein stämmiger Fünfzigjähriger. Wir kommen unangemeldet, die vierzehnköpfige Familie sitzt gerade beim Abendbrot. Dennoch werden die Fremden in die Stube gebeten. Weiße Vorhänge hängen vor den Fenstern, nie benutzte Gläser stehen im Regal, und eine Glühbirne leuchtet von der Decke. Keine Bilder, keine Bücher.

Auch hier, wie in vielen mennonitischen Wohnstuben, herrscht unglaubliche Reinlichkeit: Da ist nichts Schräges oder gar Staubiges, alles steht im rechten Winkel zueinander, alles blank geschrubbt. Ein kleiner Holzofen bullert in die drückende Stille.

Ein Gespräch will nicht so recht in Gang kommen. Und das nicht nur, weil Wiebe kein Hochdeutsch spricht. Auch die Fragen nach Geschichte und Glaubensprinzipien sind ungewohnt. Was er denn von diesen modernen Dingen wie Computern halte? Schweigen. Nach einer kleinen Weile holt er eine abgegriffene Bibel hervor und blättert darin herum. „Es heißt ja, daß zum Ende der Welt vieles passiert“, sagt er nach einer Weile. Computer seien „nicht direkt erwähnt“, aber vielleicht seien das „auch so Sachen“. Auf jeden Fall stehe man „kurz davor“.

Wie sie sich denn auf den Weltuntergang vorbereiten? Stille. Nach kurzer Beratschlagung wird ein Sohn nach Verstärkung geschickt. Wenig später faßt Wilhelm Reimer, ein weiterer Dorfprediger, nun in flüssigem Spanisch zusammen: Es gehe einfach darum, „so bescheiden wie Jesus Christus zu leben“. Was denn in den Dorfschulen gelehrt werde? Ungläubige Blicke. Die Bibel, was sonst.

Leider aber gehe heute selbst im eigenen Dorf der Glauben verloren, immer weniger kommen zu den Gottesdiensten. „Die Leute wollen immer mehr frei herumlaufen und keine Regeln mehr akzeptieren“, ereifert sich Reimer. Das Fernsehen ist Gott sei dank noch nicht bis auf Feld 81 vorgedrungen – aber das kann ja noch kommen.

Bei der Dorfkirche von Schoenthal scheint die alte, strenge Welt noch intakt – zumindest am Sonntagmorgen. In der kalten Morgensonne kommen die ersten Pick-ups angefahren und parken rund um das unscheinbare Steinhaus. Die Motoren laufen, bis zur letzten Minute bleiben alle im warmen Auto sitzen. Nach und nach steigen sie schließlich aus und schreiten, wortlos und mit ernster Mine, ohne jedes Geplauder, auf das Gotteshaus zu. Die Männer betreten es durch die vordere Tür, die Frauen durch einen Seiteneingang.

Auch drinnen ist es still und eisig. Kein künstliches Licht, nur am Sonntagmorgen werden die Fensterläden geöffnet. Links auf den rohen Holzbänken haben die Frauen Platz genommen. Die dunklen Röcke mit ihren strengen Schleifen im Rücken rascheln ein wenig, die Scheitel unterm Kopftuch sind noch straffer gezogen als sonst. Die Männer finden über ihren Bänken ein Lattengerüst mit Nägeln befestigt – für die Strohhüte. Die Gesangbücher werden hervorgekramt, alle Blicke richten sich nach vorn zu dem Podest, an dem die Vorsänger sitzen.

Was folgt, mutet für fremde Ohren geradezu gespenstisch an: ein Sprechgesang ohne Melodie, ein einziges langgezogenes, kehliges Wimmern, kaum mehr menschlich. Die Predigt wird in seltsam zerdehntem Hochdeutsch vorgetragen, so daß nur vereinzelte Brocken zu verstehen sind: „Den Verstrickungen der Verdammnis und der Finsternis entsagen.“ Oder: „Den eigenen Willen freiwillig verleugnen.“

Die Kälte kriecht selbst durch die Schuhsohlen. Wie halten es bloß die Mädchen in ihren dünnen Nylonstrümpfen aus? Nach zwei Stunden ist alles vorbei. So stumm, wie sie gekommen waren, treten die Menschen wieder ins Freie und brausen davon. Eine pralle Mittagssonne liegt über den Feldern.

Die Familie Peters hat von dieser Art Mennonitentum genug. Sie gehören schon seit vielen Jahren nicht mehr richtig dazu, erzählen sie. Die ehemaligen Glaubensbrüder sind ihnen zu rückständig. Tina Peters kommt aus einer Rheinländerfamilie und war dennoch schon immer begeisterte Leserin. Aber bei den auf hochdeutsch vorgetragenen Predigten hatte sie, wie alle anderen Altkolonier, das meiste nicht verstanden. Lange Zeit hatte sie bei sich gedacht, „so ist das wohl im Leben, man versteht eben nicht alles“. Erst später, als sie auf die Gottesgemeinde, eine Abspaltung der Mennoniten, gestoßen war, habe sich der Horizont erweitert. Auch hier die kleinen Kompromisse mit der Welt: kein Fernseher, aber ein Radiogerät steht in ihrer Küche. Der Weltuntergang allerdings steht auch für Familie Peters außer Frage.

Jede Öffnung nach außen bedeutet immer auch einen Verlust mennonitischer Kultur, sagt Abram Dyck, dessen sei man sich bewußt. Und nimmt es in Kauf? Nach einer kleinen Pause sagt er entschieden „ja“. Ab und an versuchen die Dycks noch, dagegen anzugehen. Wenn sie zu Hause plattdeutsch sprechen, damit der Sohn die Sprache der Ahnen wenigstens noch verstehen kann. Die Geschlossenheit von einst aber sei für immer verloren.

Es brodelt im Innern der Gemeinde. Einen Geldautomaten gibt es schon am Highway, und einen Videoverleih. Wer es sich leisten kann, geht nicht mehr zum „Zurechtmacher“, sondern zum „richtigen Arzt“. Alkoholkonsum und Bordellbesuche gehören heute zur Freizeit mennonitischer Jungmänner wie Schule, Bibelstudium und Feldarbeit.

Diejenigen, die so gar keinen Wert auf Verbundenheit mit der Welt legen, sind meist ohnehin weitergewandert. Gen Süden, nach Bolivien oder Paraguay, auf der Suche nach einer verlorenen Zeit. Als Abram Dyck und seine mexikanische Ehefrau Sonia den Verwandten, die schon vor Jahren nach Südamerika übergesiedelt waren, ein Foto vom neugeborenen Sohn schickten, bekamen sie es umgehend zurück. „Du sollst Dir kein Bildnis machen“, war auf der Rückseite vermerkt.

Den Dagebliebenen wird kaum etwas anderes übrigbleiben, als im Strudel der Moderne den Kopf über Wasser zu halten. Einer wie George Reimer, der eine Art Internetcafé betreut, läßt sich nicht irre machen. Demnächst wird er ihnen sogar eine eigene Homepage bescheren: den „Menno-Link“.

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