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Die ganze Welt in Kindskopfgröße

Raubdruck, Elektrizität und Tulpen – der 30jährige Krieg und seine Medien. Als Grimmelshausen zum Nestor des autorenlosen Textes, Otto von Guericke durch die Zerstörung Magdeburgs zum Experiment inspiriert und die Tulpenzucht zur Tulpensucht wurde  ■ Von Peter Funken

1998 wird in Münster und Osnabrück der 350. Jahrestag des Westfälischen Friedens begangen. Jenseits der großen historischen Ereignisse fand damals auch ein Verlegerkrieg statt, kaum wahrgenommene Experimente zur Elektrizität und farbenprächtige Feldversuche in Sachen Ordnung.

Die berühmtesten Schilderungen des 30jährigen Kriegs stammen von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, der um 1622 geboren wurde und 1676 starb. Sein „Abenteuerlicher Simplicissimus Teutsch“ erschien erstmals 1668. Die Editionsgeschichte des Romans ist selbst ein wenig abenteuerlich, liegt ihr doch der Streit zweier Verleger zugrunde. Eine Verlagsanzeige zur Leipziger Herbstmesse 1671 wirbt in schönster Barocksprache für das Werk:

Gantz neu eingerichteter allenthalben viel verbesserter Abentheuerlicher SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS. Das ist: Außfuerliche/ unerdichtete/und recht memorable Lebens=Beschreibung Eines einfaeltigen/wunderlichen und seltzamen Vaganten/Nahmens Melchior Sternfels von Fuchshaim/wie/wo wann/auch welcher Gestalt er nemlich in diese Welt gekommen/wie er sich darinnen verhalten/was er merck und denckwuerdiges gesehen/gelernet/gepracticiret/und hin und wieder mit vielfaeltiger Leibs und Lebens=Gefahr ausgestanden/ auch warum er endlich solche wiederum freywillig und ungezwungen verlassen habe. Es hat mir so wollen behagen mit Lachen die Wahrheit zu sagen. Mompelgart/Gedruckt bei Johann Fillion/Nuernberg zu finden bei W.E. Felßeckern

Die Geschichte des Simplicissimus ist eine Geschichte der Fälschungen und hat unter Beteiligung des Autors Grimmelshausen merkwürdige Scharteken hervorgebracht. Den Autor lobte Quirinius Moscherosch: „Es hat der beruffene Simplicissimus, sonsten mein Nachbar, und nur ein geringer Dorfschultes, aber ein Dauß Eß, u. homo Satyricus in folio, bey H. Felßeckern vor weyhnachten ein Tractätlein trucken lassen, dessen Titel des Teutschen Michels Sprachengepräng, nach art des Mahlers Farben gemäng, darinnen er die Teutschen Sprachhelden recht Satyrisch anzäpfet...“

Das „Tractätlein“, zumindest die Taschenbuchausgabe, umfaßt mehr als 600 Seiten und liefert als bedeutendster Schelmenroman in deutscher Sprache mit der nachträglich hinzugefügten „Continuatio“ eine Beschreibung der um 1669 bekannten und vermuteten Welt, bis hin zum indischen Ozean. Zu Grimmelshausens Lebzeiten sind vier verschiedene Ausgaben erschienen: Der Simplicissimus Teutsch (1668 und 1669), im Sommer 1669 der Schulmeister-Simplicissimus, im Herbst 1669 der Calender-Simplicissimus und endlich 1671 der Barock-Simplicissimus, der im folgenden Jahr schon seine 6. Auflage erlebte. Das Buch war ein Bestseller auf den Buchmessen von Leipzig und Frankfurt. Grimmelshausen, der seinen Roman unter dem Pseudonym German Schleifheim von Sulsfort vorlegte, verfaßte zuletzt sogar den Barock- Simplicissimus, um dem von Georg Müller als Schulmeister-Simplicissimus raubgedruckten Kassenschlager den Rang abzulaufen.

Der Philologe Scholte wirft Grimmelshausen deshalb vor, er habe „im opportunistischen Bekenntnis zur Marktgunst sein wahres Kunstwerk verdorben“. Die Existenz der endgültigen Fassung des Barock-Simplicissimus sei weniger dem schriftstellerischen Bestreben Grimmelshausens, als vielmehr dem Vorhandensein des erfolgreichen, jedoch nicht autorisierten Schulmeister-Simplicissimus zu verdanken.

Berechtigterweise nennt dann auch Manfred Sestendrup seine Editionsgeschichte „Vom Dichter gewollt“ und führt aus, „um Art und Weise der Entstehung des Barock-Simpl. ...zu verstehen, muß man sich völlig loslösen von dem uns seit Klopstock und Lessing, Wieland, Herder und Goethe vertraut gewordenen Begriff des Schriftstellers mit einem uns natürlich erscheinenden Verantwortungsgefühl für seine Schöpfung“.

Grimmelshausen, ein Nestor des autorenlosen Textes?

Daß diese Welt nicht mehr allein von einer unbestrittenen Religion und ihrem Gott regiert werde, war Anlaß des 30jährigen Krieges – des ersten großen internationalen Konflikts, in dem europäische Macht- und Besitzfragen auf deutschem Boden ausgefochten wurden. Katholiken kämpften gegen Calvinisten und Reformierte, Franzosen gegen Spanier, katholische Liga gegen protestantische Union, Wallenstein und die Habsburger gegen Schwedenkönig Gustaf-Adolf, Böhmen und Niederländer – und schließlich kämpften die verschiedenen Söldnerheere gegen eine hilflose Bevölkerung. Zum Schluß waren sieben Millionen Menschen umgebracht, ganze Landstriche „verheert“, Seuchen und Hungersnöte wüteteten in großen Teilen des Deutschen Reichs. Trotz aller Vernichtung und Zerstörung war die insgesamte Produktivität und Wohlhabenheit nach Ende des Kriegs im deutschen Reich höher als vor 1618, und bürgerliche, nicht zunftgebundene Berufsgruppen wie Ärzte, Juristen, Theologen hatten deutlich an Einfluß gewonnen.

In diese Epoche des Umbruchs fallen zentrale Versuche zur Erforschung der Elektrizität: Fritz Fraunberger hat um 1960 sein Buch über die „Elektrizität im Barock“ verfaßt, in dem er die Epoche als das Zeitalter des „homo electrificatus“ bezeichnet. Schon Griechen und Römer stellten Vermutungen über die leitenden Eigenschaften des Magnetsteins und des Bernsteins, den sie „Elektron“ nannten, an, aber erst der „Vater der Elektrizität“ William Gilbert, sowie Nicolo Cabeo und Otto von Guericke kamen dem Geheimnis der „elektrischen Materie“ näher.

Im rauhen Klima des 30jährigen Kriegs führte Guericke seine „Neuen Magdeburger Versuche über den stoffleeren Raum“ durch und erfand die Luftpumpe und die elektrisierte „Schwäffelkugel“, mit der er die magnetischen Bedingungen des Globus imitierte. Guericke (1602–1686) studierte Jura, Naturwissenschaften, war Festungsbaumeister und während des Kriegs Bürgermeister des reformierten Magdeburgs. Seine Künste nutzten der Stadt wenig: Magdeburg wurde 1631 von Tillys kaiserlichen Truppen erorbert und durch Explosionen und Feuersbrünste völlig zerstört. Von 30.000 Bewohnern überlebten nur 5.000 – meistens Frauen, von denen viele verschleppt und mißbraucht wurden. Der Haß, der so entstand, war dauerhaft: Noch Jahre später wurden kaiserliche Soldaten, die um Pardon baten, mit der Entgegnung „Magdeburger Pardon“ niedergeschossen.

Auch Guerickes Besitz wurde vernichtet, er selbst geriet in schwedische Gefangenschaft, konnte sich aber freikaufen. Man beauftragte ihn mit dem Wiederaufbau der Stadt, der, solange nicht Frieden war, nur langsam vorwärts ging. In diese Zeit fallen Guerickes wichtigsten Untersuchungen zur Elektrizität. Liest man die Beschreibung des zentralen Experiments zum Nachweis einiger „Virtutes Mundanae“, also Weltkräfte, so kann man den Eindruck gewinnen, als hätte der Gelehrte dabei nicht nur die Elektrizität, sondern auch das Trauma der Vernichtung seiner Lebenswelt en miniature an einer Glaskugel, die für den ganzen Erdball steht, darzustellen und zu bearbeiten versucht. Beim Experiment ist der Wissenschaftler allmächtig und schafft, indem er zerstört: „Hat jemand Lust“, notiert Guericke, „so nehme er eine Glaskugel von Kindskopfgröße; darin thue er im Mörser kleingestoßenen Schwäffel, setze ihn ans Feuer und schmelze ihn hinreichend; und wenn er völlig verkühlet ist, so zerbreche man das Glasgefäß, nehme die Schwäffelkugel heraus und bewahre sie an einem trockenen Orte auf. Wenn man will, kann man auch ein Loch durchbohren, so daß die Kugel an einem eisernen Stabe oder an einer Achse umgedreht werden kann.“

Im weiteren beschreibt er seine Beobachtungen am Beispiel eines Federchens, das von der elektrisierten Kugel an- und abgestoßen und von deren Expulsivkräften heimgesucht wird. Er berichtet über die Wirkung des Feuers: „Ebenso fürchtet sich die Feder vor dem Feuer so sehr, daß wenn sie sich so entfaltet und man bringt sie der Flamme der Kerze nahe, sie sich wieder an die Kugel wirft.“

Feuer, Feder, Kugel = Feuersbrunst, Mensch, Erde? Zwei Thesen zu Guerickes „Neuen Magdeburger Versuchen“ (schwer zu beweisen): Sind die Experimente zur Elektrizität und ihren Kräften durch die Zerstörung Magdeburgs inspiriert? Und: Sind Guerickes Versuche die „Weltkräfte“ zu verstehen ebenfalls Versuche das Zerstörungstrauma zu begreifen, und zwar anders, als es das katholische Weltverständnis nahelegte?

Im letzten, dem 8. Artikel seiner „Neuen Magdeburger Versuche“, beschreibt Guericke die Leuchtkraft der Kugel, die sich einstellt, „wenn man sie in ein dunkles Zimmer bringt und mit truckener Hand vorzüglich Nachts reibt, so daß sie leuchtet auf gleiche Weise wie Zucker, wenn man ihn stößt“. Das unkontrollierte Feuer vernichtet eine Stadt, der kontrolliert- elektrisierte Schwefel hingegen leuchtet hell in der Kugel.

Nach dem Krieg, der die Bevölkerung um 40 Prozent dezimiert hatte, kam der Friede. Er brachte eine neue Ordnung nach Europa; insgesamt war es eine nationalstaatliche Ordnung mit einem geregelten Programm für die Glaubenszugehörigkeit. Diese Ordnung wurde wie jede Ordnung am gesellschaftlichen und individuellen Körper eingeübt und fand ihren Ausdruck in der Kultur der Epoche. Tulpenmanie und Tulpenbörse sind im 17. Jahrhundert Beispiele für die Einübung eines solchen neuen gesellschaftlichen Codes: Die nicht duftende, in ihren Farben leicht zu manipulierende Pflanze und mehr noch ihre Zwiebel waren seit dem Beginn des Jahrhunderts zum begehrten Spekulationsobjekt geworden.

Tulpenzwiebeln, für die immense Beträge bezahlt wurden, ließen sich in großen, ornamentalen und farbenprächtigen Feldern anpflanzen. En masse aufgestellt, ergaben sie ideale, heraldische Muster. Die Beherrschung der Natur an der Kunstpflanze kann als Einübung eines neuen gesellschaftlichen Modells begriffen werden: Auch die Soldaten und Armeen werden von nun an nicht mehr als wilde Haufen und malerisch kostümierte Söldnertruppen auftreten, sondern als uniformierte Militärformationen, die durch Drill lernen im Gleichschritt zu marschieren, um dann exakt wie die Tulpen auf dem Felde auf dem Kasernenhof strammzustehen. Diese Truppen werden sich waschen, aufs Wort gehorchen und die miltitärische Disziplin auch im Arbeitsleben praktizieren.

Am Ende des 30jährigen Krieges bilden sich in ganz Europa Nationalstaaten mit markierten Grenzen. Im Feldversuch „Tulpe“ übte man die Prinzipien von Ordnung, Abgrenzung und Herrschaft ein. Derweil wurde das „elektrische Freizeitvergnügen“ an den Höfen Europas modern. Stephen Gray (1666–1736) verschaffte der Elektrizität mit seinem „Gala-Experiment“ gesellschaftliches Ansehen, als er in vornehmen Salons die Leitfähigkeit an einem achtjährigen Knaben vorführte. Das Gala- Experiment machte auf die Zeitgenossen einen ungemein tiefen Eindruck. Gray hatte eine kindische Freude an dem Experiment und wurde bis an sein Lebensende nicht satt, sich immer neue Variationen auszudenken. Mit dem Gala-Experiment bewies Gray den Zeitgenossen, daß die Beherrschung der Natur und ihrer Kräfte auch am Versuchsobjekt Mensch funktionierte, daß also die Beherrschung des Menschen letztlich ein wissenschaftliches Problem sei.

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