: "Oh, nein, Ulbricht ist am Telefon!"
■ Wer war schuld am Mauerbau? Die US-Historikerin Hope M. Harrison hat in früheren Geheimarchiven in Moskau und Berlin nach Antworten gesucht. Nicht Chruschtschow wollte die Mauer, sondern Ulbricht
taz: Wessen Idee war der Mauerbau?
Hope M. Harrison: Die Standardannahme im Westen war immer, die Mauer sei Chruschtschows Idee gewesen – ein aggressiver Akt der Sowjets. Im Gegensatz dazu habe ich herausgefunden, daß Chruschtschow ausgesprochen zögerlich war, sein Einverständnis zu geben. Er wußte, daß es das Eingeständnis einer Niederlage war, eine Mauer zu bauen. Was für ein Arbeiterparadies ist das, wenn man die Leute einmauern muß?
Wer also wollte die Mauer?
Die ostdeutsche Führung unter Walter Ulbricht. Sie wollte schon seit 1952 eine Mauer bauen. Ich habe da in den Archiven des Außenministeriums in Moskau ein wunderbares Dokument vom Frühjahr 1953 gefunden, das die sowjetische Reaktion auf den Vorschlag zeigt. Die Sowjets sagten, es ist überhaupt nicht dran zu denken, die Sektorengrenze in Berlin zu schließen. Sie hielten den Ostdeutschen vor: Kapiert ihr eigentlich, wie schwierig das wäre? Es würde das Leben der Stadt völlig durcheinanderbringen, sowohl die Ost- wie die Westberliner wären wütend auf uns, die Westmächte wären wütend auf uns. Das kommt überhaupt nicht in Frage! Die Sowjets lehnten die ostdeutsche Forderung rundheraus ab. Chruschtschow wollte wirklich, daß Ulbricht eine andere Lösung für die Probleme in der DDR fand. Er stellte sich einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz vor.
Wie hat Ulbricht es dennoch geschafft, sich gegen den Willen seines mächtigeren Genossen im Kreml durchzusetzen?
1961 schien es keinen anderen Weg mehr zu geben, die DDR zu retten, weil der Exodus von Flüchtlingen so zugenommen hatte. Ich glaube, Ulbrichts stärkstes Druckmittel gegen Chruschtschow war seine passive Macht: Seine Weigerung, die liberalere Politik umzusetzen, die die Sowjets von ihm verlangten. Dadurch hat er die sowjetischen Handlungsspielräume in Deutschland und Berlin eingeengt. Letztlich blieb die Schließung der Grenze als einzige Option, wenn sie die DDR nicht verlieren wollten. Das war für Chruschtschow peinlich.
Ulbricht und Chruschtschow waren offenbar nicht gerade dicke Freunde. Was haben Sie in den Archiven über die Beziehung der beiden herausgefunden?
Zum Überraschendsten an den ganzen Dokumenten gehört der Ton, den Ulbricht gegenüber Chruschtschow angeschlagen hat. Er war überheblich und arrogant. Es kann keine Rede davon sein, daß Ulbricht sich wie eine Marionette Moskaus gebärdet hätte. Als Breschnew Ulbricht schließlich durch Honecker ersetzt hatte, beschwerte er sich bei ihm: Ihr Ostdeutschen legt immer diese überlegene Haltung an den Tag. Ihr denkt, eure Erfahrungen taugen mehr als unsere! Ihr denkt, ihr könnt uns rumkommandieren – und wir haben es satt! Ein Ex-Diplomat, den ich in Moskau interviewte, erzählte, Ulbricht war eine echte Plage für die Sowjets. Das lief dann ab nach dem Motto: Oh, nein, Ulbricht ist am Telefon! Sag ihm, ich hab' zu tun!
Woher nahm Ulbricht das Selbstbewußtsein, dem großen Bruder die Stirn zu bieten?
Ulbricht war einfach sehr von sich eingenommen. Hinzu kam diese alte Vorstellung von der Überlegenheit der Teutonen gegenüber den Slawen, daß also die Deutschen kultivierter und zivilisierter seien. Und anders als Chruschtschow hatte Ulbricht Lenin noch persönlich getroffen.
Was bedeutet es, daß Ulbricht und nicht Chruschtschow auf den Mauerbau drängte – haben die Deutschen sich selbst in das Unglück der Teilung gestürzt?
Ich fürchte ja, auch wenn es traurig ist, das so sagen zu müssen. Der Mauerbau war die Methode, die Ulbricht bevorzugt hat. Er war ein richtiger Stalinist, und er wollte seinen Zugriff auf die Macht nicht lockern. Die Sowjets hatten Ulbricht übrigens zweimal beinahe abgesetzt, und erst nach dem Ungarnaufstand 1956 entschieden, lieber keinen neuen Mann an der Spitze zu riskieren. Aus seiner eigenen Perspektive betrachtet, hatte Ulbricht vielleicht sogar recht. Als seine Nachfolger 1989 den Zugriff nicht mehr halten konnten, kollabierte die DDR und alles war vorbei. Was den Mauerbau betrifft: In ganz entscheidender Weise haben die Ostdeutschen selbst diese fürchterliche Sache nach Deutschland gebracht.
Nach der Wende 1989 haben sich Mitglieder der DDR-Führung wiederholt damit gerechtfertigt, sie hätten nur ausgeführt, was Moskau von ihnen verlangte. Ist das, im Lichte Ihrer Forschung betrachtet, eine Ausrede?
Auf jeden Fall. Das war der leichte Ausweg aus der Verantwortung: Der Große Bruder war schuld. Auch wenn es ziemlich traurig ist, von Deutschen wieder zu hören, sie hätten nur Befehle befolgt. Interview: Patrik Schwarz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen