: „Die Leute sind total zu“
Zweimal wurde Martin Agyare von Skins überfallen. Und verlor dabei ein Bein. Beim zweiten Verfahren wurden vier der fünf Angeklagten freigesprochen. Heute ergeht vom Landgericht Potsdam im Berufungsverfahren das Urteil ■ Von Philipp Gessler
Berlin (taz) –Martin Agyare hat seine Tochter Gloria seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Ein Foto aus dem Jahr 1991 steht in der Wohnzimmervitrine aus schwarzem Holz – da war sie ein Jahr alt: große Kulleraugen, gekleidet in einem Plüschkleidchen, hinter ihr ein Vorhang mit den rot-gelb-grünen Farben Ghanas. Aber Martin hat kein Geld, um zu ihr zu fliegen (er lebt von 1.200 Mark im Monat), und wahrscheinlich würde sie es auch nicht verstehen, daß er eine Beinprothese hat. Und wie sollte er ihr erklären, daß er seinen linken Unterschenkel verlor, weil ihn Skins aus einer fahrenden S-Bahn stießen?
Das war am Abend des 17. September 1994. Zwischen Oranienburg im Norden Berlins und der Hauptstadt wurde er von zwei Rechtsradikalen mit Springmessern angegriffen, nur weil er ein „Neger“ war. Sie stachen auf ihn ein und schmissen ihn aus dem fahrenden Zug – 15 Fahrgäste schauten zu, niemand von ihnen meldete die Attacke der Polizei. Erst am nächsten Morgen wurde Martin gefunden. Eine S-Bahn hatte ihm den Unterschenkel zertrümmert.
Die Täter wurden nie gefaßt.
„Wenn ich mich daran erinnere, kann ich den ganzen Tag nichts mehr tun“, sagt Martin heute, „da bin ich zu traurig.“ Der 29jährige sitzt in der Eckcouch seiner Wohnung in Belzig südwestlich von Potsdam, der Fernseher blabbert vor sich hin. Martin redet ungern über den Alptraum von damals, er spricht stockend.
Denn es ist alles wiedergekommen, der Horror hat sich wiederholt. Am 22. November vergangenen Jahres wurde er wieder von fünf Rechtsradikalen angefallen, wieder im Zug bei Berlin.
„Bimbo, gib mir eine Zigarette“, forderte einer von ihnen, der damals 17jährige Enrico M. Enrico bespuckte Martin, der zog eine Gaspistole, der Skin schlug ihn ins Gesicht. Martin drückte ab (aus Notwehr, wie die Polizei erkannte), verletzte den Rechtsradikalen am Auge. Martin floh vor dessen Kameraden, die ihn lynchen wollten – die Skins mußten sich im Juli wegen Beleidigung und Körperverletzung vor dem Amtsgericht Potsdam verantworten.
Seitdem, sagt Martin, habe er kein Vertrauen mehr in die deutsche Justiz. Denn die Richterin verurteilte Enrico M. bloß zu zwei Jugendarresten von je einem Wochenende Dauer und 40 Stunden sozialer Arbeit. Die vier anderen Skins wurden freigesprochen, drei Augenzeugen nicht gehört. Enrico M. und die Staatsanwaltschaft gingen in Berufung – vergangene Woche begann am Landgericht Potsdam das Berufungsverfahren, heute soll das Urteil ergehen. Nach der Attacke vor einem Jahr konnte er mehr als zwei Wochen nicht mehr schlafen, erzählt Martin, er habe Beruhigungstabletten nehmen müssen: „Manchmal muß ich das noch heute tun, wenn die Erinnerung kommt.“ Seit drei Jahren wohnt er in einer Neubausiedlung am Rande von Belzig, gleich neben den Schröders. Obwohl sie Martin nicht kannten, boten sie ihm nach dem ersten Angriff ihre Hilfe an, später nahmen sie ihn bei sich auf.
Die vierköpfige Familie ist seine neue Familie geworden, die Eltern, Petra und Ralf, nennt er „Vati“ und „Mutti“. Die „Neger- Schröders“ heißen sie in der Nachbarschaft, viele „Freunde“ haben sie verloren. Ralf Schröder erhielt offene Morddrohungen.
Seit Mai arbeitet Martin in einer Art ABM-Maßnahme mit dem Namen „Arbeit statt Sozialhilfe“. Er geht in Brandenburger Schulen und gibt Nähkurse – Martin ist Textilgestalter. Da die Nähmaschinen kaputtgegangen sind, gibt er jetzt auch Trommelunterricht: Die Grundschüler, erzählt er, „freuen sich, wenn ich komme“.
„Sehr schlimm“ aber sei es in den Gesamtschulen, da riefen einige ihm „Neger“ hinterher, auch wenn er ihnen von seinem Schicksal berichte. „Hier stinkt es nach Holzbein“, habe einer sogar schon gesagt, „die Leute sind total zu.“ Erst vorgestern wurde er am Bahnhof wieder mit Hitlergruß empfangen – wohl fühlt sich Martin in Deutschland nicht mehr.
Bewerbungen an Modedesign- Schulen hat er geschrieben, aber noch keine Antworten erhalten. Raus aus Belzig würde er gern, aber er hat Scheu davor, die Schröders zu verlassen, die von so vielen ausgegrenzt würden.
Vielleicht sollte er zurück nach Afrika, fragt er sich – aber dort sei die medizinische Versorgung so schlecht: Wenn die Prothese kaputtgehe oder er einen Arzt brauche, müsse er alles selber zahlen. Wie soll er das machen, wenn er als Behinderter in Ghana keine Arbeit finde? Seine Tochter Gloria würde das alles nicht verstehen.
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