: Kunst auf der Durchreise
Heterogen, aber hochkarätig: Die Deichtorhallen begehen ihr 10järiges Jubiläum vorab mit einem Dokumentationsbuch ■ Von Hajo Schiff
Die Deichtorhallen als Lesesaal: Die erste große deutsche Retrospektive von Ilya Kabakov kommentierte jedes Bild mit einem eigenen Künstlertext. Jetzt hat die Ausstellungs-GmbH ihre eigene Geschichte erstmals in einem Buch zusammengefaßt. Vor zehn Jahren begann nach dem Konzept des damaligen Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi und des Berliner Ausstellungsmachers Christos M. Joachimides der Umbau der Markthallen: Die von der Körber-Stiftung bezahlte Neueinrichtung wurde am 9.11.1989 mit der Ausstellung „Einleuchten“ eröffnet. Daß dabei das Gespräch von den gleichzeitigen Ereignissen um die Berliner Mauer dominiert war, liegt auf der Hand, und bis heute sucht die inzwischen international angesehene Institution den Vergleich mit der neuen Hauptstadt: Die aktuelle Ausstellung „Emotion“ über neue Kunst aus den USA fordert ausdrücklich die Berliner Brit-Pop-Ausstellung „Sensation“ heraus.
Nach 60 Ausstellungen und 1,1 Millionen Besuchern wurde aber den 50 Katalogen nicht eine weitere Hochglanzbroschüre hinzugefügt, sondern ein gut lesbares Arbeitsbuch mit Texten zur Lage der aktuellen Kunst und Interviews mit Künstlern und Sammlern. So kann die Bedeutung der Deichtorhallen für die zeitgenössische Kunst richtig gewürdigt werden. Denn Kritik machte sich nicht nur an manchen Baudetails oder an Teppichausstellungen fest, manchen schien auch nichts weiter als eine Hamburger Abspielstätte des globalisierten Kunstbetriebs entstanden zu sein.
Doch in der Tat, man möchte die großen Einzelretrospektiven und die Präsentationen privater Kunstsammlungen nicht mehr missen. Daß dabei die immer auf der Durchreise befindliche Kunst eine einheitliche Linie nicht zuläßt, ist klar. Allein die starke Gewichtung der Fotografie ist ein durchgängiges Merkmal.
Warum die museale Fotografie heute als abstrakt bezeichnet werden muß, ist bei Ulf Erdmann Ziegler in seinem Beitrag zum Dokumentationsbuch nachzulesen. Ob die Künstler heute dem Kommerz verfallen sind, wird dort anhand von Andy Warhol diskutiert. Wie nahe sie dem Irrsinn sind, sagt Ilya Kabakov im Interview. Und die Spitze museologischer Argumentation erklimmt Kunsttheoretiker Boris Groys, wenn er darlegt, warum die Gegenwartskunst die Funktion erfüllt, die früher der Gott der Christen erfüllt hat.
Im gleichen Jahr wie Frau Weiss die Kulturbehörde hat Zdenik Felix 1991 von John Eric Berganus die Leitung der Deichtorhallen mit je zwei- und viertausend Quadratmeter großen Räumen übernommen, und es ist ein kleines Wunder, daß ihm die schwierige Bespielung dieser Hallen so gut gelungen ist. Mit der ersten Retrospektive des Lebenswerkes von Martin Kippenberger und dem Spätwerk von Chagall wird der Weg durch das Jubiläumsjahr 1999 beginnen – und die bisherigen Leuchttürme und theoretischen Grenzmarkierungen dieses Weges werden im neuen Begleitbuch handlich aufgezeigt.
„Im Augenblick – Die Gegenwart“, Herausgegeben von Belinda Grace Gardner, Helmut Metz Verlag, Hamburg 1998, 188 Seiten, 29 Mark
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