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Nicht zitierfähig

Einer der letzten, die schreibend aufs Ganze gingen: William Gaddis, Romancier, Satiriker und unermüdlicher Grundlagenforscher des amerikanischen Traums, ist tot  ■ Von Klaus Modick

„Der Künstler ist ein Agent der Veränderung. Aber diese Gesellschaft will um keinen Preis verändert werden. Der Künstler ist also eine Bedrohung und wird als Bedrohung empfunden.“ Diese Bemerkungen William Gaddis' bilden die Quintessenz eines ausführlichen Gesprächs, das ich vor drei Jahren mit Gaddis führte, als ich ihn in seinem Haus in East Hampton/Long Island besuchte. Die Zürückgezogenheit, in der der zierliche, fast zerbrechlich wirkende Mann lebte, mochte mit der Enttäuschung zusammenhängen, als einer der unstrittig wichtigsten Romanciers des Jahrhunderts zugleich einer der am wenigsten gelesenen zu sein – ein notorischer Geheimtip für eine radikale, literale Minderheit.

Der Rückzug korrespondierte auch mit einem der zentralen Themen seiner Werke. Schon in seinem (soeben auf deutsch erschienenen) Debüt „The Recognitions“ von 1955 (siehe Besprechung in der taz vom 21. 11.) standen die Gemälde der alten flämischen Meister als Beispiel für wahre Kunst – weil in diesen Bildern die Maler als Individuen verschwanden, sich im Werk auflösten. Der Künstler blieb unsichtbar, der autobiographische Narzißmus wurde im künstlerischen Material eingeschmolzen. Alle folgenden Romane Gaddis' sind auch beißende Satiren auf Künstlerexistenzen, die dieser Bestimmung auszuweichen versuchen. Als er für „J R“ den National Book Award bekam, sagte er in seiner Dankesrede: „Ich empfinde mich als Teil jener verschwindenden Art, die glaubt, daß ein Schriftsteller gelesen und nicht gehört werden sollte.“ Die Fixierung auf die Person, auf Publicity und Werbung statt aufs Werk empfand er als Fluch. Insofern ist das, was als „Tod des Autors“ erscheinen könnte, auch ein Versuch des Autors, seine künstlerische Energie auf sein Werk zu konzentrieren.

Heraus kamen vier Romane von staunenswerter Kraft und Konzentration; ein fünfter und letzter („Agape Agape“) ist offenbar abgeschlossen und wird posthum erscheinen. Diese Romane sind derart „dicht“ geschrieben und komponiert, daß sie in gewisser Hinsicht nicht „zitierfähig“ sind, weil jeder Satz und jedes Wort Bezüge zum Mittelpunkt, zum geistigen Kraftfeld dieser Romane aufweist. William Gaddis' Romane gehen mit einer in der Weltliteratur beispiellosen Entschiedenheit „Aufs Ganze“, und sie sind auch nur als literarische Ganzheiten adäquat erfahrbar.

William Thomas Gaddis wird 1922 in Manhattan geboren. Als das Einzelkind drei Jahre alt ist, verläßt der Vater die Familie. Die Mutter schickt den Jungen als Sechsjährigen auf ein Internat in Connecticut, wo er sieben elternlose Jahre verbringt. Diese Erfahrung prägt sich tief ein: Die Suche nach abwesenden Vätern wird zu einem Grundmotiv aller seiner Romane. Die Mutter lebt inzwischen in Massapequa auf Long Island, wo Gaddis die High School besucht. Als Vierzehnjähriger infiziert er sich mit einer seltenen Tropenkrankheit, die ihn ein Jahr ans Bett fesselt; Nachwirkungen dieser Krankheit sorgen später dafür, daß er nicht in den II. Weltkrieg muß. Von 1941 bis 1945 studiert er in Harvard, verläßt die Universität jedoch ohne Abschluß und nimmt eine Stelle als Dokumentar beim New Yorker an; die stupende Detailbesessenheit seiner Romane läßt sich unter anderem auf diese Tätigkeit zurückführen.

Er lebt im Greenwich Village der Nachkriegszeit das Leben der Boheme, kehrt dem künstlerdar- stellenden Jahrmarkt der Eitelkeiten aber bald den Rücken und reist, das ständig wachsende Konvolut von „The Recognitions“ in Koffern und Kartons mitschleppend, durch Mittelamerika (in Costa Rica kommt es zu einem revolutionsromantischen Intermezzo mit der linken Befreiungsbewegung), Nordafrika und Europa: „1952 kam ich wieder nach New York und schrieb ,The Recognitions‘ zu Ende. Und hatte Flausen im Kopf: Jetzt hast du's geschafft, dachte ich.“ Die Rezensenten dachten anders, und die potentiellen Leser glaubten der Kritik. „The Recognitions“ wurden zu einem Phantom. Gaddis, der inzwischen geheiratet und zwei Kinder hatte, hielt sich mit Jobs als Lehrer und im PR-Bereich über Wasser, schrieb Festschriften und sogar Lehrfilme für die US-Armee. Die Erfahrungen, sich mit ungeliebten Jobs durchschlagen zu müssen, gingen in jenes Werk ein, mit dem er 1975 den Durchbruch schaffte, nicht bei breiten Leserschichten, aber immerhin bei der Kritik. Für „J R“, so der Titel des im Original „nur“ 726 engbedruckte Seiten starken Romans, bekam Gaddis den begehrten National Book Award und enthusiastische Rezensionen. „J R“ ist vor allem eine gigantische, aberwitzige Wirtschaftssatire, eine Abrechnung mit dem amerikanischen Traum vom großen Geld.

Die prophetische Qualität des Buchs hat sich in den kapitalistischen Rücksichtslosigkeiten der Reaganomics und den daraus resultierenden Börsenkrächen erst in den achtziger Jahren auf geradezu unheimliche Weise bestätigt. Gaddis' großes Thema, was Amerika eigentlich ausmacht, bekam mit „The Recognitions“ die erste Antwort: Fälschung; mit „J R“ eine zweite: Geld.

1985 erschien „Carpenter's Gothic“, ein mit etwa 300 Seiten Umfang eher kurzer Roman, der die für Gaddis' Gesamtwerk zentrale Frage in den Mittelpunkt rückt, inwieweit das, „was wirklich geschehen ist“, die sogenannten Tatsachen des Lebens also, stets hinter einem verwirrenden Gewebe aus Fiktionen verschwinden. Damit wird das ästhetische Problem aufgeworfen, ob ein Roman überhaupt „Wahrheit“ vermitteln kann oder lediglich zeigt, „daß man nichts wissen kann“. Und wenn die Wirklichkeit lediglich ein Gewebe aus Fiktionen ist, schließt sich daran die ethische Frage an: Wozu das alles? Wie soll man sich angesichts eines Weltzustands verhalten, der keine „Wahrheiten“ liefert? „Das Beste ist“, sagte mir Gaddis, „so zu tun, als ob bestimmte ethische Grenzziehungen wahr sind. Es sind natürlich nur Hypothesen, Fiktionen, und wir leben in Hypothesen und Fiktionen.“

Für den Roman „A Frolic Of His Own“ (1994), deutsch: „Letzte Instanz“, erhielt Gaddis zum zweiten Mal den National Book Award. Gaddis' unermüdlich variierte Grundfrage, was Amerika eigentlich ausmache, wird hier auf dem weiten, wirren und grotesken Feld des amerikanischen Zivilrechts durchgespielt. Das erste Wort in „J R“ lautet „Geld ... ?“, das erste Wort in „A Frolic Of His Own“ lautet „Gerechtigkeit?“ (mit den überaus wichtigen Fragezeichen). Diese ersten Worte, als offene Fragen formuliert, umreißen jeweils, was dann in den Romanen entfaltet wird. „Gerechtigkeit“, heißt es weiter, „gibt's im Jenseits, hier auf Erden gibt's das Recht.“ William Gaddis starb am 16. Dezember 1998 an Prostata-Krebs.

Klaus Modick ist Schriftsteller und lebt in der Nähe von Oldenburg. Er ist Übersetzer der Gaddis-Romane „J R“ (zusammen mit Marcus Ingendaay) und „Die Erlöser“ (zusammen mit Martin Hielscher)

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