: Moskauer Drohungen: Muskelspiele ohne Bizeps
■ Rußland beruft wegen des Angriffs auf den Irak seine Botschafter aus Washington und London ab, signalisiert jedoch zugleich Zurückhaltung. Annährung an China angestrebt
Aus Protest gegen das angloamerikanische Bombardement Bagdads hat Moskau gestern seine Botschafter aus Washington und London abberufen. „In Verbindung mit den fortgesetzten amerikanischen und britischen Luftangriffen hat sich die russische Führung entschlossen, ihre Botschafter unverzüglich zu Konsultationen nach Moskau einzubestellen“, verlautete aus dem russischen Außenministerium. Einen vergleichbaren Vorfall hat es seit Ende des Zweiten Weltkrieges im Verhältnis zwischen Moskau und Washington nicht gegeben. Selbst zu Zeiten des Kalten Krieges schreckten die Kontrahenten vor einer derartigen diplomatischen Demarge zurück.
Auch am zweiten Tag der US- Intervention hat sich die Protestwelle in Moskau nicht gelegt. Ungeachtet ihrer ideologischen Couleur verurteilen alle maßgeblichen politischen Kräfte den Eingriff. Doch speist sich ihr Protest aus unterschiedlichen Motiven. Präsident Boris Jelzin, in den letzten Tagen ein wenig zu Kräften gekommen, mußte einfach über die Mißachtung seines Duzfreundes erbost sein. Erstmals hatten die Amerikaner die ehemalige Supermacht über ihr Vorhaben nicht in Kenntnis gesetzt. In einem Telefonat mit Frankreichs Präsident Jacques Chirac erfuhr Jelzin erst wenige Stunden vorher davon. „Wüstenfuchs an Jelzin vorbeigeschlichen“, brachte die Sewodnja die Stimmung im Kreml auf den Punkt. Während der Sekretär der GUS, Boris Beresowski, den Sachverhalt unverhohlen beim Namen nannte: „Letzte Nacht gesellte sich Rußland in die Reihe ohne Bedeutung.“ Es gäbe nunmehr nur noch einen Staat, der jegliche Entscheidung in völliger Unabhängigkeit und nach eigenem Gusto durchsetzen könnte: „Heute sind wir Zeugen einer neuen Ordnung geworden.“ Der Schmerz über den Verlust der Weltmachtgeltung treibt selbstverständlich auch die Opposition aus Kommunisten und Nationalisten um. Im Unterschied zu Präsident Jelzin und Ministerpräsident Primakow vertritt das chauvinistische und nationalbolschewistische Lager indes einen Kurs, der Rußland wieder von westlichen Einflüssen gänzlich isolieren möchte.
Entgegen der aggressiven Propagandamelodie schlägt der Kreml auf offizieller Ebene inzwischen leisere Töne an. Noch am Morgen hatte Verteidigungsminister Igor Sergejew konstatiert: „Die Situation verlangt eine sorgfältige Analyse und Korrektur unseres Herangehens an Probleme der internationalen Sicherheit.“ Sergejew warf auch die Frage der weiteren Zusammenarbeit mit der Nato auf.
Wenig später verhielt sich unterdessen Rußlands Botschafter bei der Nato, Sergej Kisljak, zurückhaltender. Er forderte zwar, die Angriffe unverzüglich einzustellen, Rußland würde aber verstehen, daß die Nato nicht für die Krise verantwortlich sei.
Auch Präsident Jelzin beeilte sich, den Schaden zu begrenzen: „Man darf kein Abgleiten in eine Konfrontation zulassen“, meinte Pressesprecher Jakuschkin. „Von einem Abbruch der Beziehungen zu Großbritannien und den USA kann keine Rede sein.“ Die widersprüchliche und schwankende Haltung der russischen Führung offenbart die Schwäche des Kreml. Ins Bild passen da die mehrfach bestätigten und wieder dementierten Meldungen, die russische Armee sei in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Moskau fehlen schlichtweg Mittel und Kräfte, um aus der Drohgebärde Taten erwachsen zu lassen.
Ein vortreffliches Beispiel dafür liefert die Ankündigung der Duma, den nuklearen Abrüstungsvertrag Start II nicht ratifizieren zu wollen. Längst haben Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums eingeräumt, Rußland sei allein aus Spargründen gezwungen, die Mittelstreckenraketen nach der Vorgabe des Vertrages zu reduzieren. Überdies hegt der Kreml weiterhin Hoffnung, doch noch Finanzhilfe aus dem Westen zu erhalten. Somit ist moderates Vorgehen geboten.
Dennoch wird es sich Moskau nicht nehmen lassen, sein geopolitisches Konzept einer politischen Weltgemeinschaft, das sich gegen den Hegemonialanspruch der USA richtet, vor dem Hintergrund der Irak-Affäre publikumswirksam zu lancieren. Wunschpartner Moskaus für eine strategische Partnerschaft wären die Chinesen, die sich bisher auf Distanz halten. Die Position im Nahen Osten und Irak schält sich nunmehr als ein tragender Faktor des gemeinsamen strategischen Interesses in beiden Hauptstädten heraus. Klaus Helge Donath, Moskau
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