: Tunneltanz im kulturellen Dickicht
■ Das „Kulturhandbuch Berlin“ animiert nicht gerade zum Schmökern, doch mit ihm kann man einiges über die Ursachen der Stärken und Schwächen des Berliner Kulturbetriebs erfahren
Vielleicht ist der größte Luxus, den Berlin zu bieten hat, abends mit einem Krimi auf der Couch zu liegen und zu wissen, daß man schon wieder 1.454 kulturelle Veranstaltungen verpaßt. Diese imponierende Zahl, ermittelt von der Berlin Tourismus Marketing GmbH als Durchschnittsanzahl der täglichen Kulturereignisse, findet sich auf den letzten Seiten des „Kulturhandbuchs Berlin“, das im Frühjahr im FAB Verlag erschienen ist, herausgegeben von Klaus Siebenhaar.
Jeder, der professionell mit Kultur zu tun hat, kennt den Punkt des Umschlagens in schiere Quantität, wenn keine Wünschelrute mehr hilft, Wichtiges von Nebensächlichem zu scheiden. In diesem Fall hilft das Kulturhandbuch mit seinen 600 alphabetisch geordneten Stichworten zu Institutionen des Kulturbetriebs nicht weiter, denn die Texte enthalten sich jeglicher Wertung. So landete das Buch bei mir als eventuell sachdienlich, aber seelenlos geschrieben unter den Stadtbüchern.
Allein, es findet seinen Weg immer öfter auf den Schreibtisch. Da hielt eine Künstlergruppe ihre Idee, in einer Kirche auszustellen, für ziemlich bahnbrechend, doch das Kulturhandbuch verriet, daß schon 19 Kirchen der Stadt dem Mangel an Gläubigen mit Kulturprogrammen begegnen. Bei einer Recherche über Kunstsammlungen von Unternehmen ließen sich hier erste Auskünfte über Kunstförderung von Banken und Kunst in Hotels finden, die allerdings mehr über das behauptete Engagement als die tatsächliche Qualität der Sammlungen aussagen. Oder man schaut anläßlich der angekündigten Gründung eines „Zentrums für Fotografie“ unter dem Stichwort Fotografie nach und weiß dann, wie verzettelt und zufällig diese Gattung bisher bedacht wurde.
Zugegeben, die verwaltungskompatible Sprache animiert nicht gerade zum Schmökern, und ein Textanfang wie „Prinzipiell ist der Bereich Tanz in zwei Schwerpunktkategorien zu untergliedern“ ist prinzipiell entmutigend. Dennoch lohnen sich die trockenen historischen Abrisse, wenn man an der Entstehung struktureller Probleme interessiert ist und die Ursachen der Defizite und Stärken der Berliner Kultur kennenlernen will.
Daß Bemühungen wie die, die „Szene- und Jugendkultur“ für Nichtteilnehmer zu erschließen, zu Beschreibungen führen wie: „Die Mischung aus Musik, Licht und Drogen brachte den Konsumenten dazu, sich innerhalb einer Menschenmasse einen Tanztunnel zu schaffen: Einsam in der Menge wurde so der individuelle Aggressionsabbau forciert“ hat schon wieder fast Unterhaltungswert.
So kämpft das Kulturhandbuch, das sich nicht zuletzt als Leistungsschau des Berliner Kulturbetriebes versteht, tapfer gegen die soziale und kulturelle Segmentierung an. Beim wiederholten Blättern läßt sich gar eine Tendenz ausmachen: Die Hoffnungsträger der Kultur finden sich auf zwei entgegengesetzten Polen jenseits der etablierten Institutionen bei den freien Gruppen und den Initiativen von Unternehmen. In zehn Jahren ist das Buch sicher ein schönes Dokument der kulturpolitischen Hoffnungen kurz vor der Jahrtausendwende. Katrin Bettina Müller
„Kulturhandbuch Berlin“. FAB Verlag, Berlin 1998, 58 DM
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