: Etwas Struktur im großen Chaos
In der Weddinger Kindertagesstätte in der Stettiner Straße ballen sich die Probleme: 80 Prozent der Kinder sind nichtdeutscher Herkunft, drei Viertel ihrer Eltern ohne Job ■ Von Julia Naumann
Als der Weihnachtsmann in den dritten Stock der Kita kommt, sich auf das Spielsofa setzt und kleine Geschenke verteilt, ist Ocan (alle Namen der Kinder verändert) ziemlich aufgeregt. Als der Weihnachtsmann zwei Stunden später, abgeschminkt, ohne Bart und etwas erschöpft, zurückkommt, um noch ein bißchen mit den anderen Erzieherinnen zu plaudern, ist Ocan noch aufgeregter. „Du machst das, du machst das“! schreit der fast Fünfjährige. Mehr bekommt er nicht heraus – obwohl er sich sichtlich Mühe gibt und angestrengt gestikuliert. Ocan kann nicht ausdrücken, was er gerade erlebt hat: Daß der Weihnachtsmann eigentlich eine Weihnachtsfrau ist und eine seiner Erzieherinnen. Und weil er das Wort „Weihnachten“ nicht kennt, geschweige denn einen vollständigen Satz damit formulieren kann, zeigt er immer wieder auf das Sofa und auf die Erzieherin, um seine neue Erkenntnis mitzuteilen.
Ocans „Sprachlosigkeit“ ist kein bedauerlicher Einzelfall. Er ist eins der 226 Kinder der Kindertagesstätte in der Stettiner Straße im Wedding, der zweitgrößten Kita in dem alten Berliner Arbeiterbezirk. Hier haben 80 Prozent der Kinder als Muttersprache nicht Deutsch gelernt, drei Viertel aller Eltern sind arbeitslos. „Es ist eine schwierige Kita. Sozial, wirtschaftlich und ethnisch“, sagt die Leiterin Elisabeth Rudolph.
Elf Nationalitäten besuchen täglich das riesige, in den 70er Jahren erbaute Haus, das bis vor einigen Jahren keinen Garten hatte, dafür aber Fahrstühle. Ein mit etwas Farbe verzierter Betonklotz, der innen mit seinen langen Fluren an ein Krankenhaus erinnert. Im Treppenhaus wurden erst kürzlich sämtliche Grafitti entfernt. Zwei Drittel der Kinder, die die Liege- und Laufkrippe, den Kindergarten, die Vorschulgruppen oder den Hort besuchen, sind türkischer oder kurdischer Herkunft. Außerdem gibt es AraberInnen, BosnierInnen, VietnamesInnen, RussInnen...
Ocan lebt erst seit gut einem Jahr in Berlin. Sein Vater ist Kurde und wurde hier als Asylbewerber anerkannt. Seine Mutter, ebenfalls Kurdin, versteht schlecht Türkisch und noch viel schlechter Deutsch. Ocan dagegen spricht, so sagt die Erzieherin, „sehr gut Türkisch“. Sein Deutsch ist offensichtlich miserabel, aber dafür, daß er erst ein Jahr in Berlin lebt und erst einige Monate in die Kita geht, ziemlich gut. Der kleine drahtige Junge versteht mittlerweile einen ganze Menge. Wenn die Erzieherinnen ihm sagen, daß er sich nach dem Mittagessen die Zähne putzen soll, springt er auf und rennt zu seinem Zahnputzglas, schreit: „Putzen!“, und er kann „Wo sind meine Schuhe?“ fragen. Doch wenn Ocan den Puddingbecher nicht aufbekommt, dann fuchtelt er hilflos mit dem Löffel herum und schreit „auf“. Oder auf türkisch „aç“. Mehr nicht.
Mit so einem Sprachwirrwar – bei Ocan Kurdisch, Deutsch, Türkisch – müssen die meisten Kinder in der Stettiner Straße klarkommen. Ebenso die Erzieherinnen. Die wissen häufig gar nicht, welche Muttersprache die Kinder sprechen – ein großer Teil der Kinder kommt aus binationalen Ehen, hier ist das Sprachchaos am größten. Auch bei den Eltern herrscht Verwirrung: „Ihnen ist oft selbst nicht klar, welche Sprache sie sprechen sollen“, sagt die Leiterin. Die Muttersprache oder das gebrochene Deutsch – in der Hoffnung, daß dadurch das Kind schneller Deutsch lernt.
Um dem Sprachdurcheinander ein bißchen Struktur zu geben, herrschen in der Kita klare Regeln. Die Kinder dürfen und sollen untereinander ihre Muttersprache sprechen. Denn, so sind die Erzieherinnen überzeugt, erst wenn das Kind eine Sprache gut beherrscht, kann es eine zweite lernen. Beim Zusammensein mit Menschen anderer Nationalität ist jedoch Deutsch die gemeinsame Sprache.
Doch das ist schon das einzige Konzept. Zwar soll laut Satzung des Hauses die Sprachförderung einen besonderen Vorrang haben, aber außer einer griechischen Erzieherin sind alle Deutsche, von denen wiederum nur zwei ein bißchen Türkisch können. 80 Prozent der Erzieherinnen kommen aus dem Ostteil der Stadt, haben vor der Wende ausschließlich mit deutschen Kindern gearbeitet. Sie sind sogenannte Überhangkräfte, deren Stellen weggefallen sind, als im Ostteil der Stadt viele Einrichtungen geschlossen wurden. Weil sie aber im öffentlichen Dienst arbeiten, sind sie unkündbar. „Die haben vielleicht gestaunt, als die das erste Mal hier herkamen“, sagt Elisabeth Rudolph und lacht.
Daß bei einer multinationale Einrichtung zwangsläufig unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen, scheint die Kita-Verwaltung teilweise noch nicht begriffen zu haben. So bereitet die Hausküche immer noch Schweinefleisch zu, obwohl viele muslimische Eltern das explizit nicht möchten. „Neulich gab es Szegediner Gulasch, da hätte ich den Kindern eigentlich das Mittagessen verbieten müssen“, sagt Angela Heydebreck, Erzieherin in Ocans Gruppe, etwas ratlos. Jedoch gebe es dann immer genügend „Ersatzspeisen“, wie Suppen oder Beilagen, so daß die Kinder satt würden, verteidigt die Kita- Leiterin den Speiseplan.
Auch die Sprachregelung – Türkisch untereinander, Deutsch mit anderen Nationalitäten – funktioniert in der Praxis nicht. Beim Mittagessen in Ocans siebzehnköpfiger Gruppe, in der neben einigen arabischen Kindern ein einziges deutsches Mädchen am Tisch sitzt, spricht die Mehrheit der Kinder untereinander Türkisch. „Wir haben gar keine Zeit, das ständig zu kontrollieren“, sagt Angelika Heydebreck, eine der beiden Erzieherinnen der Gruppe, entschuldigend. Denn es gibt ständig etwas zu tun: Essen austeilen, Zähneputzen, aufräumen, Popos abwischen... Für Muße und Zuhören ist nur selten Zeit.
Dabei brauchen diese Kita-Kinder besonders viel Aufmerksamkeit. „Die meisten kommen aus problematischen Familien“, sagt Leiterin Rudolph. Das gilt auch für die wenigen deutschen Kinder, denn die brauchen häufig noch im größeren Maße eine psychosoziale Betreuung, sagt Rudolph. So seien viele deutsche Mütter alleinerziehend. „Wenn es freie Plätze gibt, dann wollen die Erzieherinnen oft lieber ein türkisches Kind als ein deutsches“, erzählt sie. Von den 60 Kindergartenkindern im Alter zwischen drei und fünf Jahren sprechen nur acht Deutsch als Muttersprache. Vier von ihnen haben enorme Sprachschwierigkeiten, sagt Rudolph: Der Wortschatz ist sehr gering, die Sätze kurz und oft verdreht, Fäkalsprache das beliebteste Verständigungsmittel. Oder die Kinder sind völlig verschüchtert. Ein Beispiel ist Jenny. Das kleine blasse Mädchen sitzt meistens schweigend an Tisch, sagt kaum ein Wort. „Nur mit ihrer Mutter oder Gleichaltrigen plappert sie wie ein Wasserfall“, hat Angela Heydebreck beobachtet.
Und das versuchen die Erzieherinnen so gut wie möglich zu stabilisieren. Durch Zuneigung, Gespräche mit den Eltern, vielen Exkursionen. „Ein Kind lernt am besten eine Sprache, wenn es eine enge Bezugsperson hat und die Umwelt möglichst deutlich wahrnimmt“, erklärt Angela Heydebreck ihr Konzept zum Spracherwerb. So geht die Gruppe beispielsweise ab und zu in den Supermarkt oder auch mal auf einen Bauernhof, um zu erfahren, woher die Milch kommt.
Doch die Grenzen sind eng gesteckt. Die Ausflüge müssen die Eltern meistens selbst bezahlen, das ist ein Problem. Doch das entscheidene Manko ist die Gruppengröße: „Wir haben für jedes einzelne Kind viel zu wenig Zeit“, klagt Heydebreck. „Auch wir sind darauf angewiesen, uns kurz und knapp auszudrücken.“ Die Erzieherin ertappt sich selbst öfter dabei, daß sie nicht sagt: „Wir räumen jetzt das Spielzeug in das Regal“, sondern einfach nur „einräumen“, weil die Zeit drängt und weil in einer anderen Ecke des Spielzimmers schon wieder ein Kind plärrt. Gäbe es doppelt soviel Personal für die siebzehnköpfige Gruppe, würden die Kinder auch schneller und besser Deutsch lernen, ist Heydebreck überzeugt.
Doch selbst wenn Kinder nichtdeutscher Herkunft fließend Deutsch sprechen, heißt das noch lange nicht, daß dann ihre Entwicklung problemloser verläuft. Zum Beispiel Hassan. Der vierjährige Libanese, ebenfalls in Ocans Gruppe, spricht im Kindergarten nur Deutsch. Er macht kaum Fehler, schnappt schnell neue Wörter auf. Doch dafür leidet seine soziale Kompetenz. Hassan, der schon wie sein Vater den Macho-Look pflegt und am liebsten breitbeinig durchs Zimmer marschiert, kann nur mit jüngeren Kindern vernünftig umgehen. „Bei Gleichaltrigen schlägt er dafür um so lieber zu“, sagt die Erzieherin. Deswegen bekommt er besonders viele Streicheleinheiten und Zuwendung – wenn Angela Heydebreck dafür Zeit hat.
Ocan hat mittlerweile ein neues Wort gelernt, die Weihnachtsfrau interessiert ihn nicht mehr: Er baut aus bunten Legosteinen eine Mauer. „Lange Mauer“ sagt er und strahlt.
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