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Vergebliches Warten auf die „fünfte Modernisierung“

■ Die Prozesse gegen Parteigründer sollen den jüngsten Aufschwung der chinesischen Demokratiebewegung beenden. Zerstrittene Dissidenten im Exil bemühen sich um Einigung

„Mit der Demokratischen Partei wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Volksrepublik offen eine neue politische Partei gegründet“, sagt Frank Lu Siqing: „Die Partei ist schnell gewachsen und hat in den vergangenen fünf Monaten eintausend Mitglieder in 23 Ortsgruppen organisiert“, so der Leiter des Hongkonger „Informationszentrums für Menschenrechte und Demokratiebewegung in China“, der die meisten weltweit verbreiteten Nachrichten über chinesische Dissidenten verbreitet. Anderen Quellen zufolge hat die Dissidentenpartei nur etwa zweihundert Mitglieder.

Die Demokratische Partei ist nicht zentral organisiert, sondern besteht erstmals aus einem landesweiten Verbund von Gruppen, meint Xiao Qiang von der New Yorker Menschenrechtsorganisation „Human Rights in China“. Die Demokratiebewegung setze heute stärker auf einen graduellen Wandel und sei Dank moderner Kommunikationstechnologie besser vernetzt. „Wir können jetzt ein typisches Muster der vergangenen zwanzig Jahre beobachten. Die Gesellschaft verlangt Wandel, den die Behörden verweigern“, so Xiao. Entspannung gebe es immer dann, wenn Chinas Führer versuchten, ihre Beziehungen mit dem Westen auszubauen und daran interessiert seien, den Eindruck der Liberalisierung zu erwecken. Anschließend schlage die Repression wieder zu.

Zwanzig Jahre nach Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings und seinen „vier Modernisierungen“ (Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft, Militär) verweigern Chinas Kommunisten weiter die von Wei Jingsheng schon damals als „fünfte Modernisierung“ geforderte Demokratie. Dabei sah es dieses Jahr so aus, als stehe ein neuer „Pekinger Frühling“ bevor. Noch nie seit der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juni 1989 war die intellektuelle Toleranz in China so groß wie in diesem Jahr. Der Pekinger Professor Sheng Dewen schlug bereits „Sonderpolitikzonen“ vor, in denen nach dem Modell von Dengs Sonderwirtschaftszonen statt mit Kapitalismus mit Demokratie experimentiert werden sollte. Die vorübergehend weichere Haltung der Staats- und Parteiführung ließ die Aktivisten mutiger werden. Die Dissidenten nutzten den Schutz der Staatsbesuche von Bill Clinton und Tony Blair und wurden dabei durch die Zurückhaltung der Behörden ermuntert. Diese beschränkten sich bis November meist auf kurzzeitige Verhöre. Die Parteigründer drängten bewußt auf eine Legalisierung und beriefen sich auf den von China nach langer Ankündigung im Oktober unterzeichneten UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte.

„Organisatorisch und programmatisch hat die innerchinesische Oppositionsbewegung zweifellos Fortschritte gemacht“, meint Sebastian Heilman vom Institut für Asienkunde in Hamburg. „Personell stützt sich die Opposition auf einige hundert ,professionelle‘ Dissidenten und eine unbekannte, offenkundig aber wachsende Zahl von Sympathisanten in Medien und Staatsorganen.“ Die Verbindungen zu Arbeitern und Bauern, die unter den sozialen Folgen der Reformpolitik besonders zu leiden haben, seien aber weiterhin nur schwach ausgeprägt.

Doch abgesehen von der Forderung nach Demokratie und Reformen ist ein klares Programm bisher nicht zu erkennen. Die Bewegung hat wenig zu bieten, wenn zum Beispiel nach Konzepten zur Reform der Staatsbetriebe gefragt wird. Die Bekämpfung der Korruption steht hoch im Kurs, aber Fragen sozialer Gerechtigkeit sind für die meisten so nebensächlich wie ihre Demokratievorstellungen elitär.

Die Gründung der Demokratischen Partei ist von Dissidenten im US-Exil unterstützt worden — sie finanzierten Computer und Faxgeräte und halfen bei der Koordination der Bewegung. „Wir haben begonnen, die Demokratiebewegung als politische Oppositionsbewegung zu bezeichnen, weil wir jetzt auf kollektiver und nicht mehr aus individueller Grundlage handeln“, so Shengde Lian in Washington. Er ist Sprecher der im Juni von dreißig Organisationen gegründeten „Bewegung für ein freies China“, die auch die neue Partei in den USA vertritt.

Die Exilanten hatten in der Vergangenheit vor allem durch permanente Fraktionskämpfe, fragwürdiges Finanzgebaren und undemokratische Führer für Negativschlagzeilen gesorgt. 1993 scheiterte die Vereinigung der beiden größten Exilorganisationen.

Im Juni und Oktober dieses Jahres wurde erneut zur „Einigungskonferenz“ in die Vereinigten Staaten geladen. Im Internet wurde dafür eigens eine Anleitung zur Durchführung einer demokratischen Versammlung veröffentlicht. „Selbst die Dissidenten sind vom kommunistischen System beeinflußt“, so Shengde. „Wir müssen erst lernen zusammenzuarbeiten.“

Weil auch die Einigungskonferenz scheiterte, wurde im November in Toronto ein neuer Versuch gestartet. Wei Jingsheng, Chinas prominentester Dissident, avancierte dort zum Sprecher der Demokratiebewegung im Exil. Ob damit die Einigung und das Ende selbstherrlicher Führer erzielt wurde? Professor Andrew Nathan, Weis Mentor an der New Yorker Columbia Universität, bezweifelt, daß Wei die Dissidenten zusammenführen kann. Auch die Erklärung der Konferenz klingt eher wie eine Warnung: „Wei soll sich mit anderen Mitgliedern der Demokratiebewegung absprechen.“ Unbestätigen Berichten zufolge soll Wei ursprünglich auf einer lebenslangen Führungsrolle bestanden haben.

Wei, der die Parteigründung in China für verfrüht hält und mit dem gestern verurteilten Xu Wenli seit Jahren Differenzen hegt, hat den Rollenwechsel vom Märtyrer und Einzelkämpfer zum Exilpolitiker an der Spitze einer Bewegung noch nicht geschafft. Sven Hansen

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