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Der Weg in ein anderes Universum

Eigentlich ist es seit vier Tagen überfällig. Doch es will partout nicht kommen, das lang erwartete Kind von Louise und Antonio. Dann setzen bei der Schwangeren endlich doch die Geburtswehen ein... Am Ende eines langen und schmerzvollen Morgens sind alle erschöpft und müde, aber auf eine fast überirdische Weise glücklich: die Hebammen Birgit und Maria, die Eltern, das Kind – und die Reporterin. Ein Bericht aus dem Hamburger Geburtshaus  ■ Von Viola Roggenkamp

Telefonklingeln. Ich springe aus dem Bett. „Hier ist Birgit. Es geht los!“ Viertel vor sieben. Der Tag ist noch dunkel, und Louise bekommt ihr Kind.

Wie vereinbart hat mich Birgit, die Hebamme, sofort angerufen, nachdem Louise und ihr Mann sich auf den Weg gemacht hatten ins Geburtshaus Hamburg. Taxi! Papier und Bleistift. Geld. Soll ich eine Apfelsine mitnehmen? Quatsch. Ich soll mich wie eine Zwiebel anziehen: T- Shirt-Sweatshirt-Pullover, damit ich mich in Schichten ausziehen kann. Im Geburtszimmer wird es warm sein.

„Das wird ein kleiner Schütze“, sagt der Taxifahrer. „Woher wollen Sie das wissen?“ frage ich nervös, denn die Ampel wird gleich rot, und er soll sich gefälligst darauf konzentrieren, noch über die Kreuzung zu kommen. „Weil meine Frau heute auch Geburtstag hat“, schmunzelt er.

Wir sind da. Ich laufe durch den Toreingang in den Innenhof. Das Kopfsteinpflaster glänzt naß. An der schweren Eingangstür zum Geburtshaus steht „Bitte pressen...“ Oben öffnet mir Antonio, der Vater. „Wir sind auch gerade eben gekommen.“ Er steht in Strümpfen vor mir.

„Wie geht es ihr?“ Er kichert albern: „Den Umständen entsprechend.“ Schuhe ausziehen, Handtasche, Papier und Bleistift mitnehmen. Ich will diese Geburt aufschreiben, Mutter und Hebamme sind einverstanden. Vor fünf Tagen haben wir uns hier im Geburtshaus kennengelernt. Seitdem warte ich am Tage und des Nachts im Schlaf, daß es losgeht.

Den Korridor entlang auf dem Weg zum Geburtszimmer höre ich sie schon, Louises dunkel schwingende Stimme. Archaisch klagende Töne steigen aus ihrer Körpertiefe auf. Sie steht gebeugt vor dem Wickeltisch, die Arme aufgestützt, das Gesicht darin verborgen. Ihre Beine sind nackt.

Die durchsichtige Unterhose hat sie vom Geburtshaus bekommen. Ein praktisches Stück. Nach Gebrauch wegzuwerfen. Ich sehe, daß sie eine sehr große Binde trägt, die man auch Windel nennen könnte. Wieder steigt ihr langer Klageruf zur Zimmerdecke empor.

So mochten die Königstöchter Griechenlands geklagt haben aus Schmerz über ihr Schicksal. „Seht mich, o ihr des väterlichen Landes Bürger.“ So wehklagte Antigone um ihre toten Brüder und klagte an den Mann Kreon. Ein Klageton, in dem deutlich Groll mitschwingt, der sich gegen die Lebenden richtet, die einem etwas zugefügt haben. Iooooooooh! Iooooooooh!

Die Wehe klingt ab und ist vorüber. Louise wendet mir ihr Gesicht zu: „Hi.“ Sie lächelt. Die Haare stehen ihr zu Berge. Aber das tun sie, kurz und struppelig, immer.

„Bei der nächsten Wehe“, sagt die Hebamme, „werde ich mal nachfühlen.“ Louise nickt und wird von der Wickelkommode sechs, acht Schritte zu einem breiten Bett geführt. Ihr Bauch ist so prall und schwer, daß es scheint, als würde sie nach vorn kippen, hielte man sie jetzt nicht unter den Armen fest. Ihr Bauchnabel hat sich in maximaler Dehnung nach außen gekrempelt.

Jeder Schritt, jedes Aufsetzen der Füße dringt bis nach oben in ihre Beckenknochen und bis in die Spitzen der Schamhaare. Sie legt sich zurück und winkelt die Beine an. Zwei Minuten später die nächste Wehe. Hebamme Birgit zieht ihr die Hose aus und befühlt mit ihren Fingern in der Vulva die Öffnung der Gebärmutter.

Der Muttermund ist sieben bis acht Zentimeter offen und fühlt sich weich an. Der Kopf des Babys liegt auf dem Becken. Es wird noch etwas dauern. Eine neue Hose, wiederum mit einer großen Windeleinlage, wird der werdenden Mutter angezogen.

Louise sinkt auf den Rücken. Sie liegt da, wie vom Schicksal zurückgeworfen. Auf einmal wird das Bett zu klein, zu kurz, zu irgendwie. Die Hebamme schlägt ihr vor, sich auf die große breite Matte vor dem Bett, auf den Fußboden zu begeben, und zwar im Vierfüßlerstand, das heißt auf Knie und Hände gestützt, damit das Baby mehr Platz im Becken hat und noch ein bißchen tiefer kommen kann.

Die Schwangere knurrt. Gehalten und gestützt von Mann und Amme, schiebt sie sich mit der kostbaren Fracht nach unten. Am Boden angekommen, will sie nicht auf ihre vier Füße. Will lieber Wasser trinken und sich auf die rechte Seite legen. „Kein Problem“, brummelt Birgit begütigend und tätschelt das kleine Tierchen, zu dem sich die Frau schnaufend und stöhnend zusammenzieht.

Seit fünf Uhr früh ist sie mit dem Erdbeben in sich beschäftigt.

Der Weg von der Rückenlage auf die rechte Seite kommt einem mittelschweren Unterfangen gleich. Ihr Bauch führt ein gewichtsspezifisches Eigenleben. Ohne das voluminöse Kissen, das zwischen ihre Knie geschoben wird, würde sich der linke Oberschenkel aus der Beckenpfanne heben.

Louises Augen haben sich im Schmerz zu schmalen Schlitzen verzogen. Ihr Mund ist trocken. Antonio kommt mit Wasser, die Hebamme legt den Wehenschreiber an. Eine kleine Hörmuschel wird auf dem Leibgewölbe angebracht.

Der Cardiotokograph wird eingeschaltet. Papier beginnt herauszufließen, zweispaltig beschrieben mit Zickzacklinien. Die Anzahl der Herzschläge des Babys, der Rhythmus sowie die Stärke und Häufigkeit der Wehen pro Minute.

Zusätzlich hören wir die Herztöne des Kindes über Lautsprecher im Raum. Eine Koppel Wildpferde scheint in rasendem Galopp vorbeizufliegen, galoppgaloppgaloppgalopp, und reißt die Mutter mit sich fort in einen Wehschrei. Louise schreit und stemmt ihren Atem in diesen Ansturm.

Das wird nun zum Dialog zwischen gebärender Frau und erwartetem Kind, das raus will, nicht raus will, raus soll, endlich aufhören soll. Auf die Attacke des Kindes, das sich im Innern gegen die bedrängende Enge wehrt, antwortet draußen die Mutter. In ihrer Stimme vereinen sich Schmerz und zornige Kraft.

Hebamme Birgit hockt neben ihr am Boden und streicht ihr mit der Hand über die Nieren, über das Steißbein, über die zitternden Pobacken. Feste, ruhige Streichbewegungen. „Gut, das war guuuut, suuuuperguuuut.“

Wie beruhigend so ein Uuuuu doch sein kann. Die Wildpferde fallen in fließenden Trab. Louise pustet den Bauch auf und atmet seufzend aus. „In der Babypause kannst du dich gut entspannen“, sagt Birgit, „nicht anstrengen. Nur in der Wehe mitgehen.“

Louise liegt noch immer auf der Seite, die Beine angezogen, die Augen geschlossen. Mit der einen Hand hält sie die Hand ihres Mannes, der Daumen ihrer anderen Hand liegt an ihrem halbgeöffneten Mund. Jetzt sieht sie selbst aus wie ein Baby. „Ich zieh dir die Hose aus“, sagt Birgit. Ein kleines Summen kommt von Louises Lippen. Birgit nimmt ihr die Windel ab. Die Windel ist vollgeschissen.

Vorsichtig wischt die Hebamme der schwangeren Frau den Po, betupft sie mit lauwarmem Wasser und läßt den Unterleib jetzt unbekleidet in dem milden Licht, das den Raum gedämpft durchflutet.

Wie beim Sonnenaufgang im Frühsommer, wenn der Tag schon heraufdämmert, aber die Sonne noch nicht über dem Horizont aufgegangen ist.

Das Baby muß raus und treibt auf dem Weg vor sich her, was sich mit hinausdrängen läßt: Exkremente, Urin und noch Reste vom Fruchtwasser. Alles nimmt Birgit auf mit ruhiger Hand. Und wieder rückt die Koppel Wildpferde heran, jagt trommelnd mit hastig greifenden Huftritten durchs All und verläuft sich in ausgestrecktem Trab. Louises Stimme zieht in weitem Bogen hinterher.

Inzwischen ist Maria erschienen, die zweite Hebamme, die zur sogenannten Austreibungsphase dazukommt. Dieses Kind scheint von der Austreibung nicht viel zu halten. Sein Erscheinen war vor vier Tagen angekündigt. Es wollte noch nicht. Die Mutter in der Erwartung begann sich zu langweilen und ging mit dem Vater einkaufen. Ich saß zu Hause und wagte mich nicht hinaus, erwartend, es könne jeden Moment losgehen und das Telefon klingeln.

Zur letzten Voruntersuchung vor diesem Geburtstag hatte das Paar seinen kleinen Erstgeborenen mitgebracht. Der Sohn, noch nicht zwei Jahre alt, beobachtete, wie die Hebamme seine Mutter untersuchte. Während sich die Eltern darüber unterhielten, ob der Kleine ansatzweise begreife, was in Mamis Bauch vor sich geht, lief ihr Sohn zwischen Mutter und Vater hin und her und stopfte Bilderbücher und Spielzeugautos unter den Pullover seines Vaters, der entsprechend anschwoll. Dann zog er die Teile einzeln wieder hervor, jedesmal erfreut darüber, was ihm in die Hände kam.

Zehn Minuten vor neun. Wir wissen noch nicht, was es sein wird. Ein Mädchen? Ein Junge? Die Fruchtblase platzte im Taxi. Ein Ozean lief aus, in dem zu schwimmen neun Monate alles gewesen war. Jetzt steht ein kleiner Mensch mit dem Kopf im Becken der Frau, vor dem Eintritt in das eigene Leben. Louise geht in den Vierfüßlerstand. „Prima“, sagt die Hebamme. „Iooooooooh“, ruft Louise. Die Wehen kommen regelmäßig und in kurzen Abständen. Die Mutter kniet vorm Bett am Boden, den Kopf auf die Matratze gebettet, den nackten Unterleib gespreizt, den blassen Hintern ins Zimmer gereckt. Bei jeder Wehe liegt die Amme mit ihrem Gesicht am Boden und sieht unter die Mutter wie ein Kfz- Mechaniker unters Chassis. Das Kind richtet sich ein im Hängebauch. So war das nicht gedacht.

Die Mutter will sich legen. Die Hebamme sagt: „Hinstellen wäre mir lieber.“ Der Vater fragt beunruhigt, ob die Hebamme überhaupt schon wisse, wie das Kind liege? „Gut“, sagt die Amme in freundlicher Festigkeit. Zum Beispiel das Gesicht, fragt der Vater, ob das denn nach oben oder nach unten zeige?

Er hat Angst. Wer wollte ihm das verübeln. Vielleicht sehnt er sich nach dem Fachmann unter all den Frauen hier? Das Krankenhaus ist nur fünf Kilometer entfernt. Die erste Geburt mußte im Geburtshaus abgebrochen und in der Klinik fortgeführt werden. Der Grund ist unklar. Ein Arzt zog das Baby mit der Zange heraus. Schön war das nicht.

Birgit war auch bei jener Geburt zuständig gewesen. Das gemeinsame Unternehmen zwischen Mutter und Hebamme abzubrechen und ihre Schwangere dem Hospital zu überlassen, ist nie einfach für eine Frau in diesem Beruf. Darin liegt emotional immer etwas von Versagen und Verlust. Diesmal wollen die beiden Frauen es gemeinsam schaffen.

„Hinstellen?“ fragt Louise gedehnt. „Ja“, sagt Birgit mit fester Stimme. „Ich glaube an die Kraft der Erdanziehung.“ Zurück an die Wickelkommode. Die Beine leicht gespreizt, die Knie etwas gebeugt, mit beiden Füßen gegen den Boden gestemmt, geht die Arbeit weiter.

Zwanzig Minuten nach neun. Der Vater versorgt seine schnaubende, zischende, keuchende, japsende, fauchende Frau mit Wasser. Birgit legt ihr die Hand aufs Steißbein und schüttelt ein bißchen. „Soll ich ein bißchen schütteln?“ – „Ich weiß nicht“, kommt es kläglich. „Das Baby mag es“, sagt Hebamme Maria und hört den ruhigen Herztönen nach.

Draußen in der Diele weint ein kleines Kind. Louise hebt den Kopf. Andere Mütter kommen ins Geburtshaus zur Nachbetreuung. In der Küche findet die morgendliche Dienstbesprechung statt. Es riecht köstlich nach frischen Brötchen und Kaffee.

„O shit!“ jammert Louise, „ich werd' müde jetzt.“ Die Hebammen beraten sich kurz, ob sie der Gebärenden etwas Ruhe lassen sollen oder ob es richtig wäre, das Baby zu fordern. Maria ist unentschlossen, Birgit ist fürs Fordern und wendet sich Louise zu: „Wehen, pressen, du machst alles prima, aber der letzte Schwung fehlt noch.“ Dabei macht sie mit der Faust eine Bewegung durch die Luft, die einer Aufforderung zum Tanz gleicht.

Louise sieht ihre Amme an und ist ihr ganz ergeben. Sie soll sich auf den Gebärhocker setzen, und sie tut es. Ein Hocker, dessen Sitzfläche die Form einer Mondsichel hat. Antonio setzt sich hinter seine Frau und hält sie. Louise lehnt ihren Kopf an seine Brust, ihr Körper ruht auf dem Rand des Mondes.

Mit der nächsten Wehe kommt das Baby tief an. Aus der Vulva tropft schwerflüssig klare Nässe, von gleicher Konsistenz wie in der Erregung vor dem Orgasmus. Zwischen Louises gespreizten Beinen hockt Birgit, ganz und gar konzentriert auf das Zentrum der Schöpfung. Das wird der Grund sein, warum sich die Männer einen männlichen Gott erschaffen mußten, denke ich. Damit es wenigstens ein männliches Wesen gibt, das so etwas auch kann: einen Menschen in die Welt bringen.

Hinter der vorgewölbten Vulva zeichnet sich der Kopf ab. Kaum ist die Wehe vorüber, fordert die Hebamme Louise auf, sich zu erheben. Rechts und links und im Rücken gehalten, macht sie ein, zwei schwere Schritte nach vorn, steht und läßt ihren Leib kreisen. Mit der nächsten Wehe geht es zurück auf den Hocker. Atmen. Pressen. Wird der Sturm schwächer, wird sie wieder hochgestemmt, geht ein, zwei schwere Schritte und schwingt ihren Leib. Im rasanten Stakkato antwortet das Herz des Babys.

Es ist ein schwerblütiger Tanz, als würde die Erde gestampft, als würden alle Lebenskräfte zusammengerufen, um gegen die einschläfernde Erschöpfung anzugehen. Das Beieinander von Leben und Tod ist in diesem Raum ganz selbstverständlich. So sehr, wie es in diesen Zuständen zwischen Bauch und Welt, zwischen Himmel und Erde, zwischen ungeboren und geboren nur sein kann.

Neun Uhr fünfundvierzig. Die Lippen der Vulva haben sich geöffnet und bilden die Umrisse einer großen Avocado. Hinter der Öffnung sind die Kopfhaare des Babys zu sehen, die so schwarz sind wie die Schamhaare der Mutter. „Wann darf ich drücken?“ Birgit federt ein bißchen mit ihrem Zeigefinger unter den Rand der Vulvalippen und sagt: „Wenn die Wehe da ist, dann pressen. Ohne Wehe nicht. Sonst vergeudest du Kraft.“

Die nächste Wehe ist da. „Ich will drücken“, ruft Louise. „Ja“, ruft Birgit. Urin kommt herausgespritzt, und die dichtbehaarte Schädeldecke schiebt sich vor. Brennender Schmerz zischt auf. Von innen hinausgeschoben wird der Kopf und ist jetzt da. Louise und Antonio sehen im Spiegel zwischen den Beinen der Mutter auf den Hinterkopf ihres Kindes. „O, viel Haar“, lacht Louise leise.

Das Kind befindet sich für Augenblicke zwischen Welt und Bauch. Mit dem Körper ist es noch im mütterlichen Leib, mit dem Kopf ist es in der Welt, stumm und ernst wie nicht von dieser Welt, und hat noch ein dunkel vertrautes Körperwissen bei sich, das wir im Licht des Lebens verloren haben.

Hebamme und Mutter warten auf die nächste Wehe, um das Werk zu vollenden. Es ist still im Raum. Es kommt keine Wehe mehr. Birgit sieht auf die junge Frau, die leichenblaß ist vor Anstrengung. „Dann los jetzt, Louise“, sagt die Hebamme energisch, „schieb es raus.“ Louise stemmt sich gegen ihren Mann und stemmt sich gegen das Kind in ihrem Leib. Die Schultern müssen noch durch.

Da kommt es, und kaum sind die Schultern herausgedrängt, flutscht gut geschmiert von Blut und Schleim ein weißlila schimmernder Fisch in einem Lavastrom aufs Land, dreht sich um beim Übergang von einem Universum ins andere. Mit dem Gesicht ans Licht, Arme und Fäuste an die Brust gelegt, die Beine und Füße leicht angewinkelt aneinandergepreßt, wie der Schwanz einer Nixe.

Ein Junge ist diese Nixe. Und so, wie er noch in der anderen Welt von Eile nichts hielt, so sieht er auch jetzt müde blinzelnd in die Welt, liegt auf der Matte und schweigt. Birgit streichelt seine Wirbelsäule entlang: „Du! Nicht nur gucken. Auch was sagen.“

Nase und Mund werden vorsichtig abgesogen. Es setzt ein kleines Zirpen ein. Maria bringt einen kalten, nassen Waschlappen, mit dem Birgit dem Baby den Rücken reibt. Jetzt steigt krähender Protest auf. Die Lunge ist frei.

In Louises Gesicht spielt sich nach dem Moment der beiderseitigen Befreiung aus diesem Erdbeben so etwas wie Erleichterung und Verlorenheit wider. In dem bis hierhin von Mutter und Kind über viele Wochen gemeinsam gewachsenen Dasein und Beisein ist sie nun allein zurückgeblieben, wund, blutend, aufgerissen und in zärtlicher Freude. Das Kind hat um acht Minuten nach zehn sein eigenes Leben begonnen.

Birgit legt es Louise in den Arm. Die glückliche Mutter küßt die glückliche Hebamme. Der für den Augenblick in Tränen sinkende Mann küßt die jetzt in ihren Augen überfließende Frau. Mutter und Kind werden mit vereinten Kräften hochgestemmt, aufs Bett gelegt und gut zugedeckt. Dann beißt Vater Antonio in ein Salamibrötchen, während die Hebamme sich ans Schreibpult stellt und die Dokumente auszufüllen beginnt.

„Wie soll er denn heißen?“ Schweigen bei den Eltern. „Wir hatten uns ganz viele Mädchennamen überlegt“, sagt Louise.

Später durchschneidet der Vater die Nabelschnur zwischen Mutter und Sohn. Die Nachgeburt läßt auf sich warten. „Du hast Zeit“, sagt Birgit. Sie ist schweißnaß, aber von gleichbleibend gelassener Präsenz. Das Baby wird mit der Brust seiner Mutter bekannt gemacht, die so groß ist wie sein Kopf, die Brustknospe entspricht seiner Nase. Es saugt ein bißchen, und wie gewünscht kommt es zu Kontraktionen bei der Mutter. Aber noch wichtiger als zu trinken ist dem Kind, das Gesicht der Mutter zu betrachten. Es lächelt. Und gähnt.

Wieder kommen Wehen. Birgit zieht etwas an der Nabelschnur, die einem Ariadnefaden gleich aus Louises Vulva herausführt und an deren Ende im Leib die Plazenta hängt. Birgit breitet den dunkelroten Fladen am Boden auf einer Unterlage aus und prüft dessen Substanz. Ein leichter Duft von Eisen steigt auf.

Louise muß genäht werden. Sie ist eingerissen am Damm. „Aber nicht ganz hinauf bis zum Poloch“, informiert die Hebamme sie und rollt die zwei Beinstützen eines gynäkologischen Stuhls herein. Louise lächelt: „Das ist das einzige, was hier an Krankenhaus erinnert.“

Vom Licht eines Scheinwerfers bestrahlt liegt die Vulva, ein aufgewühltes Flußdelta nach einem Schlammsturm. Der Ort von Lust und Leidenschaft wird vorübergehend betäubt, damit Louise die Einstiche der sichelförmigen Nadel nicht fühlt. Birgit unterrichtet sie über jeden ihrer Handgriffe. Während die sorgsame Näharbeit durch drei Hautschichten vorangeht, schließen sich langsam die Lippen der Vulva zu einem schweigenden Mund.

Neben Louise liegt Antonio im Bett. Er hat seinen Oberkörper entblößt. Auf seiner flachen Brust schläft das Baby. Nach dem Nähen setzt sich Louise auf die Bettkante, auf einen kleinen Stapel Binden. Der Gegendruck am Bluterguß tut ihr gut.

Währenddessen wird das Baby auf die Wickelkommode gelegt, auf Reflexe und körperliche Beschaffenheit untersucht, gewogen und gemessen. Vier Kilo, sechzig Gramm, vierundfünfzig Zentimeter lang, Kopfumfang 36 Zentimeter.

Antonio hat längst zu fotografieren begonnen. Mit Blitzlicht. Beim ersten Flash ist das Kind erschrocken zusammengezuckt. Danach nicht mehr. Ein Lernprozeß.

Ob der Kleine Vitamin K bekommen solle, fragte die Hebamme die erschöpfte Mutter. „Wozu?“ Das sei gut für die Blutgerinnung, schmecke aber bitter, und wenn der Kleine es nicht brauche, wozu es ihm geben?

„Was meinst du Antonio“, fragt Louise? „Entscheide du es“, sagt der Vater und fotografiert weiter. Da sitzt die junge Mutter mit nackten Beinen, verklebtem Haar, einen Becher Tee in der Hand, auf einem Stapel Binden und soll es übernehmen, neben der Süße der Milch das Kind mit der Bitternis vertraut zu machen. Das Leben hat längst begonnen.

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