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Mehr Angst vor Strafe als vorm Tod

■ Der Prozeß über den Tod einer 14jährigen Fixerin zeigt: Auch in brenzligen Fällen siegt die Angst vor der Polizei. Hätten die Dealer einen Arzt geholt, könnte das Mädchen noch leben

Selten wird das Elend der Drogenszene so klar vor Augen geführt: Eine große Strafkammer des Landgerichts verhandelt zur Zeit über den Tod eines 14jährigen Mädchens, das am 28. April in einem Weddinger Hinterhof an einer Überdosis Heroin starb (die taz berichtete). Auf der Anklagebank sitzen zwei Männer, die ihr das Heroin auf ihren eigenen Wunsch hin injiziert und sie dann – als ihre Atmung abflachte – aus Angst vor der Polizei im Hof abgelegt haben sollen. Der Vorwurf lautet: Mord durch Unterlassen.

Der tragische Tod der aus Cottbus stammenden Punkerin Christine K. spiegelt nach Angaben von DrogenberaterInnen den Alltag der hiesigen Heroinabhängigen wieder. 8.000 Menschen in Berlin sollen nach ihren Schätzungen heroinabhängig sein. „Sie bewegen sich ständig in einer Grauzone zwischen Leben und Tod, sind aber meistens vollkommen hilflos, wenn sie mit lebensbedrohlichen Notfällen umgehen müssen“, weiß Astrid Leicht, Mitarbeiterin der Drogenberatungsstelle Fixpunkt. Medizinische Unkenntnis und die Angst vor dem polizeilichen Ermittlungsdruck führten immer wieder dazu, daß Junkies falsch reagierten und zu lange warteten, bis sie Hilfe holten.

Die Angeklagten, der 27jährige Kimmo P. und der 30jährige Cüneyt C., waren selbst abhängig und bildeten eine Zweckgemeinschaft: Kimmo P. soll die Wohnung gestellt haben, während Cüneyt C. im Freundes- und Bekanntenkreis mit Heroinkleinstmengen gedealt haben soll. „Bei uns ging es ständig zu wie auf einer großen Party“, sagte Kimmo P. Das Mädchen, Christine K., genannt Krümel, kannten sie vom Bahnhof Zoo. Krümel habe sie nach Heroin gefragt, sie hätten sie dann mit in die gemeinsame Wohnung genommen, berichtete Kimmo P. Krümel habe behauptet, schon seit längerer Zeit an der Nadel zu hängen. Auf ihre Bitte hin habe er ihr beim Spritzen geholfen.

Als das Mädchen auf dem Sofa zusammensank und das Bewußtsein verlor, seien alle in der Wohnung in Panik geraten. Inzwischen waren noch vier Bekannte dazu gekommen. Alle versuchten, das Mädchen mit eigenen Maßnahmen wie Herzmassage und der Injektion von Kochsalzlösung zu retten, oder zumindest gute Ratschläge zu geben. „Es herrschte Chaos“, sagte eine Zeugin vor Gericht. Aber aus Angst vor der Polizei habe man keinen Arzt geholt.

Kimmo P. fuhr zwischenzeitlich sogar noch zum Bahnhof Zoo um Drogennachschub zu holen. Vier Stunden nach der Injektion der Spritze bestand Cüneyt C. schließlich nach eigenen Angaben darauf, endlich einen Arzt zu holen. Während er und ein Freund losgingen, brachten die anderen das bewußtlose Mädchen in den Hof. Für Krümel kam jede Hilfe zu spät.

Nach Einschätzung von medizinischen Sachverständigen hätte das Mädchen durchaus Überlebenschancen gehabt, wenn der Arzt früher geholt worden wäre. Aufgrund von Zeugenaussagen und der am Arm der Toten gefundenen drei Einstiche geht die Staatsanwaltschaft davon aus, daß Christine K. „seit wenigen Wochen“ Heroin injizierte.

Die 14jährige war mit elf das erste Mal von zu Hause ausgerissen. Mit zwölf kam sie ins Kinderheim. Seit sie 14 war, ging sie auf Trebe. Ihre Mutter, die den Prozeß als Nebenklägerin verfolgt, ist bis heute davon überzeugt: „Meine Tochter war nicht drogenabhängig.“

Christine K.s 16jährige Berliner Freundin, Josephin B., hatte nach Krümels Tod bei der Polizei zu Protokoll gegeben: Die 14jährige habe ihr erzählt, daß sie sich vor „zirka einem Monat“ in einer Citytoilette den ersten Schuß Heroin habe setzen lassen. „Darauf war sie sehr stolz, weil sie nun alle Drogen ausprobiert hatte.“ Die Staatsanwaltschaft geht in der Anklage davon aus, daß die beiden Männer den Tod des Mädchens im Hof billigend in Kauf genommen haben, um zu verdecken, daß sie einer Minderjährigen Heroin injiziert hatten. Die Verteidigung hält dies für weit überzogen. Schließlich hätten die Angeklagten die Feuerwehr gerufen, bevor sie das Mädchen nach draußen brachten.

Nach Angaben von Fixpunkt- Mitarbeiterin Astrid Leicht „stirbt die Hälfte aller Junkies nicht allein“. Dies ergibt eine Drogentodesfallstudie, die das vom Bundesgesundheitsministerium Anfang der neunziger Jahre für den Raum Berlin, Bremen und Hamburg in Auftrag gegeben hatte. Die Anwesenden verhielten sich meist falsch, so Leicht. Fixpunkt wird deshalb ein Erste-Hilfe-Modellprojekt in der offenen Drogenszene durchführen. Einer der Ratschläge: In brenzligen Situationen sofort einen Arzt hinzuziehen. Um den Junkies die Angst vor der Polizei zu nehmen, empfiehlt Fixpunkt, am Telefon nicht von einem „Drogennotfall“ sondern von „Atemstillstand“ zu sprechen. Denn bei einem Drogennotfall werde von einer Straftat ausgegangen, und die Polizei komme automatisch mit. Der Prozeß wird im Januar fortgesetzt. Plutonia Plarre

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