Nachwuchsengel

„Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee“: Thomas Rosenlöchers Lyrik verteidigt trotzig das Romantische  ■ Von Michael Braun

„Es träumt sich nicht mehr recht von der Blauen Blume. Wer heut' als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben.“ Mit Walter Benjamins siebzig Jahre alter Notiz über den „Traumkitsch“ können auch heute noch alle professionellen Verächter des Romantischen ihren Argumentationsbedarf decken. Schon Benjamin desavouierte alle schwärmerischen Anhänger des romantischen Weltgefühls als hoffnungslos Gestrige und somnambule Nostalgiker.

Dieser schneidende Gestus des „Das geht nicht mehr“ trifft jetzt auch immer häufiger den Dichter Thomas Rosenlöcher, der in seinem sächsischen Weltenwinkel am Rande Dresdens (und neuerdings im Erzgebirge bei Beerwalde) nach dem „stillen Grund“ der Poesie Ausschau hält. Selbst geistig durchaus zurechnungsfähige Kritiker zeigen sich verärgert, weil der Dichter so trotzig-beharrlich an seiner romantischen Weltaneignungsemphase festhält und sich auch durch den lautstark erhobenen Gemütlichkeitsverdacht nicht einschüchtern läßt. Da sitzt einer weiterhin mit offenen Sinnen in Sachsen „und schaut in den Schnee“, ohne sich auf ein apokalyptisches Glaubensbekenntnis verpflichten zu lassen.

Von Beginn seines Schreibens an hat sich der 1947 geborene Rosenlöcher in der Tradition der von Eichendorff und Mörike inspirierten Romantik situiert – ein Nachgeborener der von Adolf Endler so betitelten „Sächsischen Dichterschule“, die stets quer lag zu den kulturpolitischen Imperativen der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“. Schon in seinem Debütband „Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz“ (1983) präsentierte sich Rosenlöcher als moderner Idylliker, der einen verwilderten Garten, einen Bach mit „Lichtgeglitzer“ oder aber die Kirschbaumblüte zum „Mittelpunkt der Welt“ erklärt. Die Mörike-Zeile: „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“ liefert ihm das Motto, um die Utopie des Naturschönen zu verteidigen. Den hohen Ton der Hymnen und Oden Hölderlins und der Elegien eines Rilke adoptiert Rosenlöcher für seine sächsische Spätromantik, um noch einmal das von Brecht einst unter Ideologieverdacht gestellte „Gespräch über Bäume“ führen zu können. Drohende epigonale Feierlichkeit wehrt der Dichter erfolgreich ab, indem er den hohen Ton durch Ironie, Schnoddrigkeit und Profanierung der Gedichtthemen konterkariert. So enthält schon der Kleinzschachwitz-Band Hymnen auf „die Seife“ oder „an die Klopapierrolle“, und auch ein „Mundbesen“ (= Zahnbürste) wird poesiefähig.

„Idyllen“, so hat Rosenlöcher in einem Gespräch mit der Zeitschrift neue deutsche literatur definiert, „schließen für mich auch die Mitteilung über Verluste ein.“ Tatsächlich gibt es wohl kein einziges Rosenlöcher-Gedicht, das sich auf den naiven Weg einer rein affirmativen Idyllik begibt. Selbst in den friedfertigsten Szenerien, wo ein rauschender Bach und dunkle Nacht, „schwerelos vor lauter Blütenschnee“, zusammentreten, lauert irgendeine Unheimlichkeit, ein Zeichen des Todes oder ein Hinweis auf irreversible Naturzerstörung. Wenn also ein „locus amoenus“ oder die „schöne Natur“ in den Blick geraten, dann wird in dieses Glück der nahen Dinge immer ein düsteres Gegenbild eingezeichnet. Enthält Rosenlöchers Debütband noch eine gewisse Hoffnung auf gesellschaftliche Weiterungen, so hat sich im zweiten Buch „Schneebier“ (1988) der Blick verfinstert, weicht das illuminierte Naturschöne einer trostlosen Schwärze, in der die „schwarze Industrie“ ihr Zerstörungswerk vollendet. Die Elbe erscheint als irreversibel vergifteter Strom mit „gelbem Schaum“, der alle gesellschaftlichen Fortschrittsideen mit sich reißt.

Im Gedicht „Der Aufsteigende“ taucht aus der Kloake plötzlich „des Fortschritts erster Sekretär“ auf, um über „die Aggregate des Fortschritts“ zu schwadronieren, bevor er wieder von der Flut verschluckt wird. Schon im titelgebenden Gedicht des Kleinzschachwitz-Bandes machen sich die Beine des Poeten selbständig, verlassen den idyllischen Garten – und prompt gerät der Staat in Unordnung und schlägt Alarm. Die herrschaftskritische Tendenz mancher Zeilen mußte Rosenlöcher freilich wieder dämpfen – wurden ihm doch von den Literaturpolitikern kleine Korrekturen an einigen Gedichten nahegelegt.

Seine ersten beiden Gedichtbände hat Rosenlöcher jetzt noch einmal durchgesehen, neu geordnet und bei Suhrkamp als eigenständiges Buch publiziert. Es ist verblüffend, wie frisch und unverbraucht diese Verse geblieben sind – obwohl zwischen ihrer Niederschrift und ihrer Wiederveröffentlichung eine Zeitenwende liegt, die deutsch-deutsche Umwälzung von 1989/90. An der ironischen Anrufung von „Sekretären des Fortschritts“ mag inzwischen historische Patina haften. Aber das souveräne Spiel mit der Metrik und Rhythmik der klassischen Oden, Hymnen und Elegien gibt den Gedichten eine erstaunliche Haltbarkeit.

Nach der Wende hat der Lyriker Rosenlöcher – gegen alle grimmigen Biederkeitsvorwürfe – in seinem romantischen Sehnsuchtston weitergeschrieben. Nicht viele seiner Gedichte nach 1989 reichen allerdings an jene zart-ironischen Engel-Gedichte aus „Schneebier“ heran, in denen sich die geflügelten Götterboten als äußerst schlitzohrige und alltagstaugliche Geschöpfe erweisen. „Ein jeder Engel ist schrecklich“, hieß es noch in Rilkes Duineser Elegien. Rosenlöchers „Nachwuchsengel“, „Kicherengel“ und „Engel der Beharrlichkeit“ erweisen sich dagegen als sehr profane Wesen und entwickeln dabei eine Unbotmäßigkeit und einen Alltagswitz, den man Kurieren aus heiligen Sphären eigentlich nicht zutraut.

Im Schutzbereich der Engel leben und schreiben zu wollen, mag auf rührende Weise altmodisch erscheinen; der Dichter selbst sieht die Gefahr, „es mir im Überkommenen gar zu gemütlich zu machen“. Aber ohne die Bereitschaft zum (mitunter naiven) Staunen über die Dinge der Welt kann im spätromantischen Refugium des Thomas Rosenlöcher keine Poesie entstehen. Er vertraut auf das Widerspiel von Sentiment, Pathos und Ironie – „um die Sehnsucht zu retten“.

Thomas Rosenlöcher: „Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee. 77 Gedichte“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1998, 128 Seiten, 26 DM