Wenn Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern werden

Das einstige Konzentrationslager Sachsenhausen diente von 1945–1950 den Sowjets als Internierungslager für angebliche Nazichargen. Die Ausstellung „Lebenszeichen“ zeigt, daß vor allem Mitläufer, niedere Funktionäre und Unschuldige in diesem Stück Gulag ihr Leben verloren  ■ Von Philipp Gessler

Das Versteck war ideal, eine hohle Linde auf dem Friedhof von Reinshagen bei Güstrow. Hartwig Timm, 18jähriger Gärtnerlehrling, konnte hier sein größtes Geheimnis sicher verwahren – einen Trommelrevolver, den er gefunden hatte, wenn auch ohne Munition. „So etwas verändert Ihr Leben“, sagt er fast schwärmerisch noch heute. Aber die Veränderung war anders als erwartet: Die Waffe kostete Hartwig mehr als vier Jahre seines Lebens.

Denn Hartwig war einer von insgesamt etwa 60.000 Männern, Frauen und sogar Kindern, die zwischen 1945 und 1950 im „Speziallager Nr. 7“ inhaftiert waren, dem Lager Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin. Sie waren interniert von Stalins Geheimdienst NKWD. Ein Stück Gulag der sowjetischen Armee in ihrer Besatzungszone – ausgerechnet im ehemaligen Konzentrationslager, in dem die Nazis bis 1945 mehr als 100.000 Menschen getötet hatten: durch Zwangsarbeit, Folter, vermeintlich medizinische Versuche, Erschießen und Erhängen. Ein verflucht deutscher Ort.

Die Ausstellung „Lebenszeichen“, bis zum 2. April kommenden Jahres in der früheren Lagerwäscherei zu sehen, gibt Einblick in die sowjetische Zeit der Baracken nach dem Krieg. Sie zeigt Kassiber, also herausgeschmuggelte Notizen, und Briefe aus dem Lager. Und das Gruselige und Verstörende daran: Die Ausstellung zeigt Täter, die Opfer wurden, sie beschreibt das Schicksal unschuldig inhaftierter Jugendlicher ebenso wie das Leiden von Nazis, die Strafe verdient haben.

Von den insgesamt etwa 60.000 Inhaftierten starben nach 1945 um die 12.000 im Lager, vor allem an Krankheiten, Unterernährung und Kälte. In den erst zehn, dann fünf Lagern in Ostdeutschland gab es im Laufe der Jahre etwa 180.000 Inhaftierte, jeder dritte von ihnen fand den Tod – viele Unschuldige darunter wie etwa einer, der als angeblicher SS-Bannführer eingesperrt wurde, in Wirklichkeit aber nur S-Bahn- Fahrer war.

Hartwig Timm kam im August 1946 in die Fänge des NKWD, verhaftet wegen Waffenbesitzes und angeblicher „Werwolf“-Zugehörigkeit: Die NS-Propaganda hatte vor der Eroberung Deutschlands getönt, die Deutschen würden nach der Niederlage in „Werwolf“- Gruppen gegen die Besatzer kämpfen; die Sowjets nahmen diese Drohung ernst. Hartwig wurde zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt und kam im Oktober 1946 nach Sachsenhausen. Erst vier Jahre später kam er frei.

„Das war ein Wunder, daß ich da rausgekommen bin“, erinnert sich der dünne Mann, heute 70 Jahre alt. Wanzen habe es „in Hülle und Fülle“ gegeben, dafür „viel zuwenig zu essen“. Er war heillos unterernährt und erkrankte an Tuberkulose. Die Häftlinge waren in ihrer gesamten Lagerzeit nur mit dem bekleidet, was sie zu Beginn ihrer Inhaftierung am Leibe hatten.

Eine große Belastung war dabei die erzwungene Untätigkeit – Hartwig schlug die Jahre im Lager damit tot, Strümpfe zu stopfen, Taschentücher zu besticken, mit Nadeln aus Holz, und das alles in elenden Baracken, aus denen man über Monate pro Tag nur einmal für eine Viertelstunde heraus durfte.

Sachsenhausen hatte zu dieser Zeit eine 2,70 Meter hohe Mauer, Wachtürme, Suchscheinwerfer, bewaffnete Posten mit Wachhunden, elektrisch geladene Zäune und ein striktes Lagerregiment, das Kontakte zwischen den verschiedenen Zonen des Areals strikt unterband. Das Lager galt, wie die anderen „Speziallager“, als „Schweigelager“, aus denen keine Nachrichten nach außen dringen durften. Deshalb hatten herausgeschmuggelte Kassiber oder die später spärlich erlaubten, aber zensierten Briefe eine so große Bedeutung für Schreiber wie Empfänger.

Hartwig durfte erst am 14. April 1949, fast drei Jahre nach seiner Inhaftierung, einen Brief an seine Familie schreiben. Darin ist zu lesen: „Ich werde Euch wohl mit diesem Brief eine große Freude bereiten, aber ich will Euch auch gleichzeitig schreiben, daß man mich zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt hat.“ Viele Lagerinsassen galten als „spurlos verschwunden“ und konnten erst nach Jahren mitteilen, daß sie noch lebten.

Es gab völlig Unschuldige im Lager: Etwa die 38 Jugendlichen aus der thüringischen Kleinstadt Greußen, die als angebliche „Werwölfe“ 1946 inhaftiert wurden. Nur 14 von ihnen überlebten die Haft. Erich Nehlhans, der erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin nach dem Krieg, hatte die NS-Zeit im Untergrund überlebt und wurde wahrscheinlich 1948 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen „Spionage“ zu 25 Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Er wurde zunächst ins Lager Sachsenhausen gebracht, später in die UdSSR, wo er 1953 ums Leben kam.

Daneben gab es Mitläufer wie etwa den Schauspieler und Intendanten des Schiller-Theaters, Heinrich George, in der Nazizeit beteiligt an Machwerken wie „Jud Süss“ oder „Kolberg“. Unter den Exponaten sind aber auch Briefe von unteren Funktionären der NSDAP zu sehen, etwa von Rudolf Behrendt, seit 1933 Mitglied der Partei und Ortsgruppenleiter im brandenburgischen Jabel. Er erwartete täglich die Entlassung aus dem Lager: „Ich habe übrigens nie daran gezweifelt, daß ich vor Weihnachten zu Hause bin“, schrieb er an seine Familie – und starb doch den Akten nach in den Baracken an „Myokard-Dystrophie“, einer Herzerkrankung, im März 1947.

Unter den Lagerinsassen waren Aufseherinnen aus dem Frauen-KZ Ravensbrück und Angehörige der Lagerleitung des NS-Lagers Sachsenhausen. Inhaftiert waren der Medizinprofessor Hans Heinze, ein Beteiligter an der „Kinder-Euthanasie“, und Paul Popp vom 9. Berliner Polizei-Reserve-Regiment, das 1941/42 in der UdSSR Massentötungen an Zivilisten vorgenommen hatte.

Und es gab solche Fälle wie Dietlinde Timm, die den ebenfalls internierten Zwillingsbruder Hartwigs im Lager kennenlernte und später heiratete. Sie war zwischen 1942 und 1945 hauptamtliche BDM-Führerin für Kulturarbeit beim Untergau Querfurt in Thüringen. Wegen angeblichen Waffenbesitzes und Werwolf-Zugehörigkeit kam sie ins Lager – sie sagt, sie habe nichts getan, was „anrüchig“ war.

Von ihr ist auf der Ausstellung ein anrührendes Stück zu sehen: ein roter Schal, den sie ins Lager mitgebracht hatte und teilte, als ihr späterer Mann entlassen wurde. Sie behielt eine Hälfte, ihr Mann die andere. 1950 konnte sie die beiden Hälfte wieder zusammennähen, 1954 heirateten sie.

Ines Reich, Projektleiterin der Ausstellung, sagt, die meisten der Nazis im Lager seien nur kleine und mittlere Funktionsträger der Partei gewesen und die Zahl etwa der KZ-Aufseher „marginal“, an zwei Händen abzuzählen.

Die Ausstellung zeigt nur die Hinterlassenschaften von eher kleinen Nazis und von Unschuldigen. Wer von einem Besuch in einer Ausstellung mehr Fragen als Antworten erhofft, ist hier an der rechten Stelle.