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Ein Stück der Identität

97 Sprachen werden an Hamburgs Schulen gesprochen. Unter Rot-Grün soll nun erstmals die Zweisprachigkeit von Kindern explizit gefördert werden, beispielsweise im muttersprachlichen Unterricht  ■ Von Karin Flothmann

BALIK steht in ungelenken Großbuchstaben auf dem Papier. BALIK, das ist das türkische Wort für Fisch. Yusuf blättert in seinem Heft eine Seite weiter und stößt auf die Abbildung einer Kuh. Die heißt auf Türkisch INEK. Yusuf greift zum Bleistift und malt drauflos. Erst ein I, das ist leicht. Dann setzt er den Stift links oben an, zieht einen geraden Strich nach unten, fährt schräg wieder rauf und nochmal runter. Das N gerät spiegelverkehrt – ein typischer Fehler von Erstklässlern.

Yusuf ist Schüler der 1c an der Grundschule Chemnitzstraße in Altona. Viermal pro Woche steht eine dreiviertel Stunde lang muttersprachlicher Unterricht auf seinem Stundenplan. Zusammen mit den elf anderen türkischen SchülerInnen seiner Klasse spricht er dann die Sprache seiner Eltern und Großeltern, lernt in ihr Lesen und Schreiben. Muttersprachliche Alphabetisierung nennt sich das im Pädagogendeutsch.

Für rund die Hälfte aller SchülerInnen in der Chemnitzstraße ist Deutsch nicht die Sprache, die die Eltern sprechen. Zwei Drittel dieser Kinder haben zu Hause Türkisch gelernt. „Der muttersprachliche Unterricht ist ein Stück ihrer Identität“, sagt Mithat Tahoglu. Für seine Schüler hat der in Istanbul ausgebildete Gymnasiallehrer eigene Materialien zusammengestellt, etwa das Heft mit Fisch und Kuh.

Kritiker wenden ein, der Sonderunterricht nach Art Tahoglus verstärke nur die Isolierung ausländischer Kinder und führe geradezu zum Sprachghetto. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen jedoch das Gegenteil. Türkische Kinder, die zweisprachig alphabetisiert werden, haben deutlich bessere Chancen in ihrer weiteren Schullaufbahn, befanden Berliner Wissenschaftler. 95 Prozent dieser SchülerInnen machen einen Schulabschluß. Anders sieht das in rein deutschsprachigen Klassen aus: 30 von 100 türkischen Kindern schaffen hier den Schulabschluß nicht.

Bis 1997 war in Hamburg dennoch keine Schule verpflichtet, muttersprachlichen Unterricht anzubieten. Erst konsequente Bemühungen von GEW und GAL führten dazu, daß jetzt Richtlinien und Unterrichtspläne für diese Form der Integration ausländischer Kinder entwickelt werden. Denn ein Ziel rot-grüner Politik in Hamburg ist es seit letztem Jahr, „die Zweisprachigkeit von Kindern und Jugendlichen zu fördern“. Der Koalitionsvertrag schreibt außerdem „die ausdrückliche Anerkennung der Erst- bzw. Muttersprache im Rahmen der schulischen Bildungsgänge“ fest.

„Was bisher der Willkür und dem Engagement einzelner Schulen überlassen war, hat jetzt einen politischen Rahmen“, freut sich Christa Goetsch, schulpolitische Sprecherin der GAL. Denn muttersprachlicher Unterricht wurde vereinzelt schon in den 80er Jahren an Hamburger Schulen angeboten. An insgesamt 75 staatlichen Schulen konnten ausländische Kinder im letzten Schuljahr diesen Unterricht besuchen. Türkisch war und ist der Spitzenreiter. Einige Schulen bieten aber auch Russisch oder Kurdisch an, auf St. Pauli lernen Roma an zwei Grundschulen Schreiben und Lesen auf Romanes, und auf der Veddel gibt es muttersprachliche Angebote in Albanisch.

Im Sommer diesen Jahres wurde das Angebot noch erweitert: An den Gesamtschulen Allermöhe und Süderelbe kann Russisch seither als zweite Fremdsprache gewählt werden, am Gymnasium Hamm können SchülerInnen Türkisch zu ihrer dritten Fremdsprache küren und in Mümmelmannsberg wurde ein Lehrer eingestellt, um Farsi, das iranische Persisch, zu unterrichten. In der Grundschule Rellingerstraße nehmen neben den Muttersprachlern seit September erstmals auch sechs deutsche Erstklässler an den griechischen Ergänzungsstunden teil.

Zum regulären Schulalltag gehören all diese Angebote jedoch noch nicht. Zur Zeit, so erläutert Helga Büchel vom Amt für Schule, erarbeite die Behörde einen Lehrplan für den Unterricht. Noten in der Erstsprache sollen künftig auch im Zeugnis und bei Versetzungen eine Rolle spielen. Prüfungen, die in der eigenen Muttersprache abgelegt werden können, sollen Flüchtlingskindern den Seiteneinstieg ins deutsche Bildungssystem ermöglichen.

Ein großer Schritt, wenn man einen Blick auf die Ursprünge des muttersprachlichen Unterrichts in Hamburg wirft. Grundlage dieses Angebots ist eine EG-Richtlinie aus dem Jahr 1977 über die „schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitern“. Ziel des Unterrichts war es, türkischen, italienischen oder griechischen SchülerInnen Lesen und Schreiben in der eigenen Sprache beizubringen. Immerhin, so die offizielle Lesart, waren diese Kinder wie ihre Eltern nur zu Gast in Deutschland und würden später wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Die Stadt Hamburg wählte damals den einfachen und kostengünstigeren Weg: Sie übertrug einen Großteil des Unterrichts den jeweiligen Konsulaten. Die nachmittäglichen Stunden waren und sind heute noch ein Zusatzangebot, das von Lehrern aus den Herkunftsländern bestritten wird. 2500 türkischsprachige SchülerInnen nahmen 1997 am muttersprachlichen Unterricht an Hamburgs staatlichen Schulen teil, rund 2000 türkische Kinder besuchten zur gleichen Zeit den türkischen Konsulatsunterricht.

Die Krux an der Sache: Hamburgs Behörde hat keinerlei Weisungsbefugnis, kann keinen Einfluß auf den Unterricht nehmen. Andreas Kühn von der Hamburger CDU ist empört: „Die können in Deutschland ja unterrichten, was sie wollen“, meint er. „Selbst bei extremistischen oder fundamentalistischen Inhalten hätte der Senat keine Möglichkeit einzugreifen.“ Helga Büchel von der Schulbehörde bestätigt: „Den Konsulaten steht es frei, die Stunden inhaltlich zu gestalten. Ihr Schwerpunkt sollte auf dem Sprachunterricht liegen.“ Sie setzt darauf, daß türkische Kinder vermehrt die Unterrichtsangebote an den staatlichen Schulen wahrnehmen.

Kurdische Eltern etwa verzichten in der Mehrheit eh darauf, ihre Kinder zum türkischen Konsulatsunterricht zu schicken – oft aus politischen Gründen. Acht Hamburger Schulen boten 1997 daher nachmittags muttersprachlichen Kurdischunterricht an. Seit Sommer dieses Jahres wird diese Sprache in der Grundschule Chemnitzstraße auch vormittags unterrichtet. Sieben SchülerInnen aus allen vier Jahrgangsstufen der Schule nehmen an dem Angebot teil. „Es war für uns gar nicht so einfach, rauszubekommen, welche unserer Schüler überhaupt Kurden sind“, erzählt Schulleiter Michael Rieger. „Viele Eltern wollen das aus den unterschiedlichsten Gründen nicht preisgeben.“

Während kurdischsprachige Kinder zwei Stunden lang in ihrer Sprache Schreiben und Lesen lernen, gehen ihre MitschülerInnen zum Gitarrenkurs, weben oder spielen Theater. Anders ist das beim türkischen Ergänzungsunterricht. „Während die einen Türkisch lernen“, so erläutert Rieger, „vertiefen die deutschen Schüler ihre Kenntnisse im Lesen und Schreiben – und lernen so auch Dinge, die mit den türkischen Kindern nicht mehr nachgeholt werden.“ Einige türkische Eltern möchten daher gar nicht, daß ihr Kind am muttersprachlichen Unterricht teilnimmt. „Mein Kind soll richtig Deutsch lernen“, lautet ihre Devise.

Deutsche Eltern dagegen fragen den Schulleiter oft, ob ihr Kind nicht am Türkischunterricht teilnehmen könnte. Doch das ist kompliziert. Immerhin baut der Unterricht darauf auf, daß die Kinder die Sprache zu Hause schon gelernt haben. Yildil aus der 1c fällt es daher nicht gerade leicht, den Worten ihres Lehrers Mithat Tahoglu zu folgen. Die Mutter der Sechsjährigen ist Deutsche, die Eltern trennten sich, als Yildil noch ein Baby war. Dennoch besucht das zierliche Mädchen den muttersprachlichen Unterricht in der Chemnitzstraße. Mit ihrer Freundin spricht sie deutsch. Worte wie „BALIK“ oder „INEK“ kennt sie nicht. Nur das türkische Kinderlied, daß alle zusammen zum Ende der Stunde singen, schmettert Yildil inbrünstig mit. Das hat sie auswendig gelernt.

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