: Ein Gewirr aus Schlangen
■ In Bremen leiden fast 500 Mädchen an Eßstörungen / Die 20jährige Sina veröffentlichte jetzt einen Gedichtband über den fast unbesiegbaren Dämon
Der Weg von der Küche zum Klo ist nicht weit. Sina muß nur ein paar Schritte gehen, die Tür schließen und sich übergeben. So, wie sie es immer getan hat, wenn die Mutter übers Wochenende wegfahren war. „Zwei Tage fressen und kotzen. Das war mein Ritual.“ Aber an diesem Wochenende ist alles anders. Da schließt sie keine Tür. Da bleibt der Klodeckel zu: „Es ist nur mein eigener Wille, der dazwischen steht“ – der Wille, gegen die eigene Sucht „Bulimie“ anzugehen.
Bulimie
in meinem Kopf
ein Gewirr
aus Schlangen
das Lachen
zu laut
Flammenaugen
sind blind
weißt du
Himmel und Hölle
ein einsames Spiel
Jahrelang konnte Sina das nicht. Da war sie zeitweise „völlig runter“, hatte 60 Abführkapseln am Tag geschluckt, jeden Tag gekotzt, dann mal wieder nur gehungert – „die ganze Palette durch“. An den Klinikaufenthalt, den sie nun hinter sich hat, war da noch nicht zu denken. Jetzt hat die 20jährige die drei Monate durchlaufen – und steht zum ersten Mal wieder in der eigenen Küche. Allerdings diesmal ohne die „alten Mechanismen zu verwirklichen“.
Ob freß-kotzsüchtig oder magersüchtig – in Bremen kämpfen mittlerweile fast 500 Mädchen mit Eßstörungen. Tendenz steigend, schätzt der Elternkreis eßgestörter Töchter und Söhne (siehe Interview) – ein Zusammenschluß von betroffenen Eltern. „Bei uns steht das Telefon schon lange nicht mehr still“, erzählt Heidemarie Gniesmer vom Elternkreis. Mittlerweile suchen nicht nur immer mehr Eltern Hilfe.
Auch Mädchen in Not wählen die Elternkreisnummer – weil es für sie in Bremen schlichtweg keine zentrale Hilfsadresse gibt. Erst jetzt – nach Protesten des Elternkreises sowie aller Bürgerschaftsfraktionen – will Gesundheitssenatorin Tine Wischer (SPD) diesen Mißstand beseitigen (siehe Kasten). Das Gesundheitsressort erarbeitet derzeit ein Hilfs- und Beratungsangebot für Mädchen, um sich von der Sucht zu befreien.
Ständig bin
Ich auf der Suche
Nach mir
Aber ich kann mich nicht finden
„Reden“ oder Hilfe holen konnte Sina ganz lange nicht. „Irgendwas läuft schief, das habe ich schon gemerkt“, sagt sie heute. Sie war wie „auf Droge“ nach dem „Machtgefühl“, das sie zeitweise durch das ständige Hungern über ihren Körper gewonnen hatte. Statt nach außen zu gehen, schrieb sie Gedichte. Keiner wußte, was sie durchlebte. Bis ihre Freunde bemerkten, wie Sina immer mehr abnahm – und ihre beste Freundin in Aktion trat. Aber Hilfe für Sina zu finden, war alles andere als einfach. Nur durch Zufall stießen die Freunde auf eine Suchtberatungsstelle, die das Landesinstitut für Schule in der Langemarckstraße aufgebaut hatte.
Geschenkt
das Leben kostet
die Sucht
die Sucht kostet
das Leben
allein
ich
wurde mir selbst
geschenkt
und ich
würde lügen
wenn ich sage
ich mache mir
nichts
aus Geschenken
Und Sina ging hin – weil ihre Freundin gedroht hatte, sonst auf Distanz zu gehen. Und irgendwie fand Sina doch den Mut zu sprechen. Suchtberaterin Margrit Hasselmann „packte mich so an, daß ich Vertrauen fand“, sagt sie. Irgendwann nach vielen gemeinsamen Gesprächen entschied sich Sina, in eine Klinik zu gehen – um ihre eigene Geschichte und Suchtproblematik aufzuarbeiten.
Zwei nicht weiter erwähnenswerte Freß-Kotz-Rückfälle und acht Kilo mehr auf den Rippen – das ist die erste Kurzbilanz nach Sinas dreimonatigem Klinikaufenthalt weit weg von Bremen. In Anti-Diät-Kursen hat sie die panische Angst vor Sahnetorte verloren – „und gelernt, daß man ganz normal essen kann, ohne gleich wie ein Hefekloß aufzugehen.“ Und daß sie nicht ihre ganzes Leben lang „beliebt, fröhlich und brav“ sein muß – als Ausgleich zu ihrem Bruder, der in der Familie immer „ordentlich Terz gemacht hatte“.
Im Kurs „Soziale Kompetenz“ in der Klinik hat sie geübt, „nein“ zu sagen – „und zu streiten, das ist mir total schwer gefallen.“ Immer hatte sie „als blondes Engelchen“ in der Familie – mit Mutter und Bruder, weil der Vater sich getrennt hatte – die „Verantwortung für den Frieden im Haus“ zu tragen. Und für die gute Stimmung: Sinas Großvater hatte ihr als kleines Mädchen immer gesagt: „Du bist hier das einzige Licht in der Dunkelheit.“
Immer funktionieren und nie durchdrehen, Agressionen lieber nach innen umleiten. Darin sieht Sina einige der Ursachen, warum sie schließlich vom Fressen, Kotzen und Hungern abhängig war. Und sich in dieser Zeit „so richtig kaputt gemacht hat. Gutgehen durfte es mir auf keinen Fall.“
Einfach so für sich einkaufen gehen und etwas kochen. Einfach so auch in Bremen weiter eine Therapie machen. Einfach so nach Hamburg zum Studieren ziehen und Pläne für die Zukunft schmieden: All das hat Sina jetzt vor. Am liebsten würde die 20jährige in einem Verlag arbeiten, „im Lektorat“. Und zwischendurch abwarten, was sich mit ihren Gedichten noch tut. Denn die könnten vielleicht auch einem größeren Verlag gefallen, verrät Sina und lacht. Lob und Ruhm „ertragen“ – auch das war eine der Lektionen, die sie bestanden hat. Katja Ubben
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