: Wenn das Abendessen in Fesseln gekocht wird
■ Krisen, Widersprüche und gelegentlich auch ein bißchen Komik: „Die Entwicklung. Tagebuch einer S/M-Beziehung“ gibt sehr explizit Auskunft über sexuelle Dynamiken
In der Schwulengruppe einer süddeutschen Großstadt lernen sich Paul und Leon kennen. Aus einer Affäre wird eine intensive Beziehung, und bald kommt Pauls Kiste mit den SM-Utensilien ins Spiel. Beide betreten Neuland: Leon hatte bisher keinerlei sadomasochistische Erfahrungen, Paul war vorher Maso und befindet sich erstmals in der Position des Meisters. Paul befiehlt Leon, Tagebuch über ihre Beziehung zu führen, und das Ergebnis ist nun bei MännerschwarmSkript zur Literatur avanciert.
Leon beschreibt über den Zeitraum eines knappen Jahres den Weg, der irgendwann SM-Sex und den Rest des Lebens zur Deckung bringen soll. Dies drückt sich nicht nur in der Erweiterung der Praktiken oder in der Einrichtung eines gemeinsamen „Spielzimmers“ aus, sondern ebenso in Momenten wie diesem (in einem Einschub von Paul): „Der maso (sic!) sitzt schon fast selbstverständlich beim Fernsehen auf dem Boden zu meinen Füßen und fungiert außerdem als Fernbedienung. Toll, wie sich das entwickelt hat!“ Das direkt Genitale kommt jedoch nicht zu kurz; besonders schwer fällt Leon das Gebot des Meisters, sich nicht ohne dessen Erlaubnis an den Schwanz zu fassen.
Die Protagonisten formulieren einen hohen Anspruch an Sex als Kommunikationsmittel. Dabei geht es nicht ohne Widersprüche, Krisen und gelegentliche Komik ab: Da ist Pauls Arbeitslosigkeit, die ihn zeitweise in seiner Meisterrolle verunsichert. Es entstehen Spannungen zwischen dem Anspruch, Liebe durch Unterwerfung auszudrücken, und dem Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Und nach ausführlichem Austausch von Körperflüssigkeiten kocht Leon in Handfesseln das Abendessen.
Leons Unterwerfung ist nicht etwa Schwäche oder bloßes Mit-sich-machen-lassen; die Maso-Position beinhaltet ein aktives Mitgestalten der gemeinsamen Sexualität. Außerdem werden die Positionen gelegentlich auch getauscht.
Das explizite Schreiben über Sex jenseits von unspannender Billig-Pornographie hat in deutscher Sprache kaum Tradition. Dieses hübsch zu lesende und durchaus antörnende Buch ist um so erfreulicher. Fortsetzungen sind angekündigt.
Jakob Michelsen
Die Entwicklung. Tagebuch einer SM-Beziehung (Pauls Bücher, Band 1), herausgegeben von Joachim Bartholomae, MännerschwarmSkript, Hamburg 1998, 189 Seiten, 34 Mark
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