: In den Niederungen der Statistik
In Mailands krimineller Unterwelt konkurrieren traditionelle Clans mit albanischen Gruppen. Seit ein italienischer Tabakhändler ermordet wurde, sind die Bürger Mailands mobilisiert – und der Fremdenhaß wächst wieder ■ Aus Mailand Werner Raith
Die Wandkarte sieht beeindruckend aus: An 14 Punkten, verteilt über das gesamte Stadtgebiet, stecken Fähnchen, inmitten rundherum eingezeichneter, rot schraffierter Zonen: „Alles Herrschaftsgebiete dieser Brüder“, erläutert der Polizeimeister. „Piazza Duomo: Taschendiebstahl und Straßenraub“, steht da, „Hauptbahnhof: Drogenhandel, Diebstahl, Raub“; „Venezia-Viertel: ausschließlich von Ausländern geleitete Mikrokriminalität“, „Piazza Aspromonti: Trick-Glücksspiel auf der Straße, Schutzgelderpressung“.
Und so weiter, spiralförmig nach außen bis zum Monuccio- Viertel, wo Zuhälterei, Prostituion von Immigrantinnen und Hehlerei ihr Zentrum haben. „Und fast überall hört man bei den Bossen nur eine Sprache: Albanisch“, sagt der Beamte. „Sie haben sich in den letzten Monaten zu Häuptern der Malavita, des kriminellen Untergrundes, aufgeschwungen.“ Mailand, so sieht er die Lage, „ist mittlerweile mehr als Palermo und Neapel zur Hauptstadt des Verbrechens geworden.“
Die Statistik scheint ihm recht zu geben: In den ersten neun Tagen dieses Jahres lagen auf den Straßen der lombardischen Metropole neun Tote. Dutzende wurden schwer verletzt. Die meisten der Angegriffenen sind selbst Zuwanderer aus Drittweltländern oder dem Balkan; aber es hat auch einen Mailänder erwischt, den Inhaber eines Tabak- und Andenkengeschäfts in der Via Adriana, und eigentlich ist erst seit diesem Mord die Stadt so richtig mobilisiert. „So lange sich die Gangster untereinander abknallen oder abstechen“, meint der Polizist, „ist es den Leuten hier nur recht.“
Nanos P. ist gerade wieder mal auf der Wache, weil sich zwei Festgenommene geweigert hatten, mit dem von der Polizei gestellten Pflichtverteidiger zusammenzuarbeiten. In solchen Fällen werden ab und zu Vertrauensleute der Albaner gerufen, die die Advokaten erst einmal unter die Lupe nehmen, ob es sich dabei nicht um verdeckte Spitzel der Ermittlungsbehörden handelt. Nanos leugnet nicht, daß die Albaner in Mailand eine immer stärkere Stellung in der Kriminalität einnehmen. Doch die Wandkarte, die der Präfekt und die Polizeikommandos ihren Dienststellen zur Verfügung gestellt haben, kontrastiert Nanos mit einer Karte, die er selbst gezeichnet hat – und da sieht die Sache doch ziemlich anders aus: Da sind zu den 14 Problemzonen, die die Strafverfolger eingezeichnet haben, noch zwei Dutzend andere dazugemalt, und manchmal überlagern diese die „Immigranten“- Gebiete weiträumig. Da steht dann etwa: Clan Nachfolger Epaminonda, Clan Brusco, Clan Aglieri...: alles Ableger gestandener Unterweltgruppen aus Italien selbst.
„Die Sache ist die“, sagt er und holt weit in die Geschichte aus, „zuerst, noch in den 70er und 80er Jahren, als bei uns noch die Kommunisten Enver Hodschas regierten, haben sie uns mit der Propaganda ihrer Fernseh- und Radiosender Italien als das Gelobte Land angepriesen und den Mund wäßrig gemacht. Dann, als die KP- Herrschaft zu Ende war, haben sie uns mächtige Investitionen verheißen – gekommen sind aber im wesentlichen nur Betrüger, die uns auch noch das genommen haben, was die Kommunisten uns gelassen haben. Und als wir dann aufgebrochen sind ins Gelobte Land...“
Der Polizeiobermeister erhebt Einspruch: „Niemand hat euch hierhergelockt. Ihr seid freiwillig gekommen. Und außerdem: Die meisten von euch sind gar nicht nach dem KP-Zusammenbruch gekommen, sondern erst jetzt. Und dabei sind mehr als die Hälfte Schwerkriminelle.“ Nanos zuckt die Schultern: „Tatsache ist, daß Italien wie ganz Europa lange Jahre die Balkanfrage verdrängt hat oder sich nur auf ein Wettrennen eingelassen hat, wer im zerfallenden Jugoslawien den größten Einfluß gewinnt, Deutschland oder Frankreich. Uns habt ihr vergessen, und als die Scheiße am Kochen war, habt ihr gedacht, ihr könntet einfach die Grenzen dichtmachen.“ Das sieht auch der Polizeimeister ein: „Daß die Regierungen zu lange die Augen zugemacht haben, ist unbestritten. Aber warum kommen denn nur Kriminelle nach?“
Nanos schüttelt den Kopf. „Die Abfolge ist doch die: Wir kommen ins Land und suchen Arbeit. Albaner sind gesuchte Leute, fleißig, wendig, und die meisten können, anders als Kurden oder Schwarzafrikaner, schon einigermaßen Italienisch. Nur: wir kriegen keine reguläre, gesetzeskonforme Arbeit. Auch sozusagen honorige Arbeitgeber beschäftigen uns nur schwarz, keiner will Versicherung und Steuer für uns zahlen. Und wenn unsere Chefs dann noch Illegaleres verlangen, mal eine Fuhre Schmuggelware fahren oder einem Konkurrenten die Reifen aufstechen, bleibt uns gar nichts übrig, als zu folgen, sonst sitzen wir noch am selben Tag im Abschiebelager. Und so geht das weiter.“
Er steht auf, denn der Staatsanwalt hat nun angerufen, daß er die zwei festgenommenen Albaner in der Zelle besuchen kann.
Draußen rüsten sich gerade zwei Autostreifen zum nächtlichen Einsatz am Parco delle Cave, ein Mannschaftswagen bringt weitere acht Polzisten auf Fußstreife in dieselbe Gegend. Sie ist besonders berüchtigt: Hier nämlich arbeiten nebeneinander italienische und albanische Banden, und das führt nicht selten zu Spannungen. „Eigentlich ist das ein Gebiet, wo es lange Zeit friedliche Joint-ventures der beiden Ethnien gegeben hat“, berichtet der Streifenführer. „Hier werden nämlich vor allem Jobs vermittelt. Aber inzwischen werden sogar die Aufträge im kriminellen Bereich immer weniger, andererseits nimmt die Aggressivität rapide zu. Und da balgen sich Italiener und Albaner, aber auch Zentralafrikaner und Kurden um die ,Kunden‘, das heißt um die schlagkräftigsten Typen und die besten Prostituierten.“
Nur wenig später haben die Beamten bereits den ersten Einsatz: eine Messerstecherei. Gemäß neuester Dienstanweisung sollen sie nicht mehr sofort eingreifen, wenn irgendwo Streit gemeldet wird, sondern warten, bis ein größeres Aufgebot an Polizisten herbeigerufen ist.
Eine Vorsichtsmaßnahme des Innenministeriums: Dort fürchtet man, daß es bald einmal auch einen Polizistenmord geben könnte. Und das wäre für die Lega Nord, die derzeit politisch eher im Abseits dümpelt, ein gefundenes Fressen für den Wiederaufstieg: Schon malen militante „Legisten“ Sprüche wie „Immigranten ins Meer“ an die Wand und skandieren auf Protestversammlungen „Gebt den Immigranten eine Chance – schickt sie in den Himmel“.
Die Schlägerei, zu der die Beamten nun gerufen wurden, ist bei ihrer Ankunft längst beendet, Verletzte sind offenkundig nicht zurückgeblieben. Dafür aber schimpfen die Anwohner aus den oberen Stockwerken der umliegenden Blöcke auf die Polizisten, weil sie zu spät gekommen seien. „Unlebbar“, sei Mailand geworden, schreit ein Mann herunter, „aufhängen“ solle man jeden, der hier in Mailand ohne ehrliche Arbeit herumlaufe, kreischt eine Frau im zweiten Stock, und auf das vom Polizisten unvorsichtig zurückgerufene „dann müßten auch Hunderttausende Mailänder, die keine Arbeit haben, an den Galgen“, prasselt ein wahrer Hagel von weiteren Beschimpfungen herunter, von „Da seht ihr eben, die Immigranten haben uns unsere Arbeitsplätze weggenommen“ bis zu „Und euch Polizisten sollte man dazuhängen“.
Die Lage ist zweifellos explosiv in Mailand. Die Zeitungen berichten am nächsten Tag ausführlich über den Krisengipfel aller Sicherheitskräfte, bis hin zum Militär, wozu neben der Innenministerin Russo Jervolino auch Ministerpräsident Massimo D'Alema höchstpersönlich angereist war – mit seinem guten Instinkt für politische Gefahren wollte er Oppositionsführer Silvio Berlusconi, der ja selbst Maiänder ist und der Regierung natürlich Versagen vorwirft, den Wind aus den Segeln nehmen: So sollen spätestens im Februar mehr als 800 zusätzliche Polizisten nach Mailand beordert werden, die bisher getrennt arbeitenden Einheiten der Staatspolizei und der Carabinieri unter einheitlichem Kommando zusammengefaßt werden. Vertrauen flößt das aber weder den Bürgern noch der Polizei selbst ein: „Alles Kosmetik“, meint der Streifenführer, „solange die Frage der Zuwanderung nicht einigermaßen effizient gelöst wird, geht hier nichts.“ Das behauptet auch die Opposition, wie die Zeitungen weiter melden.
Doch auch Berlusconi und die Rechte haben derzeit keine guten Karten in ihrer Hochburg, deren Bürgermeister sie seit 1997 stellen: Den meisten Italienern ist bewußt, daß viele sogenannte „Rechtsgarantien“, die das italienische Strafverfahrensbuch aufweist, von der 1994 amtierenden Regierung Berlusconi eingeführt wurden. Die waren „natürlich gedacht vor allem zum Schutz der damals vielen Politprominenten, denen Gefängnisstrafen drohten“, erinnert sich der Streifenführer, „doch nun profitieren vor allem die Mitglieder organisierter Banden von diesen Gesetzen“. Zahlreiche Bosse kommen schon nach wenigen Wochen oder Monaten wieder frei, selbst wenn ihnen schwerste Körperverletzungen oder gar Totschlag oder Mord vorgeworfen werden; „die einige Zeit straff durchgehaltene Isolierung von ihren Kumpanen im Gefängnis wurde weitgehend aufgehoben, längst können die Bandenchefs aus dem Knast ihre Gruppen weiterdirigieren“, wie unser Polizeiobermeister in der Revierzentrale morgens bei unserer Rückkehr vermerkt. Und da, so gibt auch er, der sonst Immigranten am liebsten auf dem Butterbrot verspeisen würde, unumwunden zu, „werden vor allem die italienischen Bosse begünstigt, die sich seit jeher die besten einheimischen Anwälte leisten können“.
Nanos, der inzwischen von seinem Zellenbesuch zurück ist – über den Inhalt seiner Gespräche dort läßt er nichts verlauten, wahrscheinlich wäre er sonst auch seine Vertrauensstellung bei der Polizei los – freut sich, daß er da wieder mit dem Polizisten übereinstimmt. „Fakt ist, daß man hier zwar wirklich immer öfter auf albanische Bosse trifft. Aber in nahezu allen Fällen sind sie nicht die Oberbosse, sondern regieren die mittlere Ebene. Selbst wo eine Gruppe tatsächlich ausschließlich aus Albanern besteht und einen der ihren als unumschränkten Capo vorweist, kann man sicher sein, daß über diesem irgendwo im Hintergrund noch ein Mächtigerer steht, der die Fäden zieht und ihn gegen einen ,stillen‘ Anteil am Geschäft gewähren läßt. Und das ist mit Sicherheit ein Einheimischer.“ Der Polizeimeister breitet die Arme aus. „Mag sein“, sagt er, „aber ist es nicht schlimm genug, daß die Immigranten nun schon die mittlere Ebene bestimmen? Wie lange wird es dauern, bis sie ,ganz oben‘ sind?“
Dann haut der Polizist dem Albaner plötzlich auf die Schulter. „Schon komisch“, sagt der Polizist beim Abschied, jeder verteidigt seine Landsleute, selbst wenn sie Schwerkriminelle sind. Sollten wir nicht einfach zusammen helfen?“ Der Albaner macht sich los, nicht unhöflich, aber doch bestimmt. „Wäre schön“, sagt er, „aber das würde nur klappen, wenn wir wirklich von gleich zu gleich arbeiten könnten.“ Er geht hinaus, der Polizist guckt ihm etwas verdutzt nach.
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