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Die Akten niemals schließen

Als sie vor 15 Jahren „in den Rollstuhl operiert“ wurde, gründete Kerstin Hagemann die Hamburger Patienteninitiative  ■ Von Karen Schulz

Sich im Rollstuhl durch ihr Büro zu bewegen, ist für Kerstin Hagemann schon lange zur Gewohnheit geworden. Die zierliche Frau flitzt zwischen Schreibtisch und Tür hin und her, begrüßt BesucherInnen und nimmt Anrufe entgegen. Seit 15 Jahren schon. So lange besteht die Hamburger Patienteninitiative in diesem Monat. Und das ist vor allem Hagemanns Verdienst.

Sie hat die Initiative 1984 gegründet – „aber nicht alleine“, wie sie betont. Rund 140 Mitglieder habe der Verein derzeit. Doch es ist kein Geheimnis, daß die Initiative vor allem durch Hagemanns Engagement vorangetrieben wird. Außer der Mittvierzigerin ist nur eine Handvoll Menschen aktiv. Die meisten bleiben nur so lange, wie sie selbst von falscher oder zweifelhafter Behandlung betroffen sind. Das sei zwar bitter, gibt Hagemann zu, aber verständlich. „Nachdem sie mit ihrem Fall abgeschlossen haben, wollen viele das Kapitel in ihrem Leben zumachen.“

Ihr selbst ist das nie gelungen. Durch ihr Engagement führt sich Kerstin Hagemann täglich ihr eigenes Schicksal, „in den Rollstuhl operiert worden zu sein“, vor Augen. Anfang der 80er Jahre war das. Behandelnder Arzt: der Orthopäde Prof. Rupprecht Bernbeck, dessen Behandlungsmethoden jahrelang für Schlagzeilen sorgten. Ihm werden Operationsfehler und mangelnde Hygiene vorgeworfen. Kerstin Hagemann gehört zu den rund 200 Geschädigten, die sich in den 80ern zusammenschlossen, um gemeinsam für eine unbürokratische Schadensregulierung zu kämpfen. Der Bernbeck-Skandal fiel in die Zeit ihrer Ausbildung zur Sozialarbeiterin. Da lag es nahe, in Richtung Medizinische Beratung zu gehen, erklärt sie: Der Rest „war learning by doing“.

Aus der Selbsthilfegruppe entstand in Hamburg die Patienteninitiative e.V., die bundesweite Resonanz und NachahmerInnen in ganz Deutschland fand. Sie bietet telefonische und persönliche Beratung für Menschen an, die vermuten, daß sie falsch behandelt wurden. Allein im vergangenen Jahr hat die Initiative 1100 Gespräche geführt. Immer noch „ist es möglich, mit den Hilfesuchenden viel zu bewegen“, schwärmt Hagemann.

Dennoch falle es manchmal schwer, sich zu motivieren. Das liegt vor allem am jahrelangen Gerangel um die Finanzierung (siehe Kasten unten). Die Stadt muß sparen, und die Spenden von privater Seite werden immer weniger. Einige Betroffene des UKE-Strahlenskandals geben hin und wieder 100 Mark – „das reicht dann immerhin für zwei Wochen Telefon“, sagt Hagemann und rechnet vor: „Im Bernbeck-Fall sind bis heute rund 35 Millionen Mark Schadenersatzzahlungen an die Patienten erfolgt. Ein paar Prozent davon würden für die Arbeit der Initiative schon genügen.“ Weil das Geld hinten und vorne fehlt, kostet ein persönliches Beratungsgespräch mittlerweile 30 Mark. Zahlen muß aber nur, wer es sich leisten kann.

Für Hilfesuchende ist die gelernte Sozialarbeiterin sieben Tage die Woche erreichbar. Gibt es sie da noch, die Grenze zwischen Job und Privatem? Kerstin Hagemann denkt einen Moment nach. Bei ihren Freunden und vor allem in ihrer Familie finde sie Unterstützung, erklärt sie dann. Ihr Mann übernimmt die Buchführung für die Initiative; die elfjährige Tochter wickelt zu Hause Telefonate ab und vergibt Interviewtermine an JournalistInnen. Auch wenn sie ihre Mutter manchmal fragt, warum sie sich nicht einen anderen Job sucht, beobachtet sie die Situation doch neugierig: „Eine Mutter im Rollstuhl zu haben, ist eben keine alltägliche Erfahrung“, erklärt Hagemann.

So engagiert die Familie ist, so allein gelassen fühlt sich die Ini-Gründerin von PolitikerInnen und Ämtern. „Es gehört zur politischen Verantwortung, mehr für den Patientenschutz zu tun.“ Doch dafür fehle schlicht der Wille, das mache auch die Diskussion um eine Anlaufstelle für Angehörige von Pflegebedürftigen deutlich, die durch den sogenannten Hamburger Pflegeskandal entfacht wurde.

Kerstin Hagemann ist solchen Frust gewohnt. Ruhig erzählt sie, als sei das Thema für sie abgeschlossen. Aufgeben will sie nicht: Denn letztlich, ist sie überzeugt, „gibt es nur zwei Möglichkeiten: klein beizugeben oder mit geradem Rücken zu kämpfen“.

Wie 1995, als die Gesundheitsbehörde ankündigte, den Verein mit der Beratungsstelle der Verbraucher-Zentrale zusammenzulegen. „Das hätte die Auflösung des speziellen Profils der Patienteninitiative bedeutet“, empörte sich Hagemann – und führte die Geschäfte der Ini fortan von zu Hause aus. Ehrenamtlich. Ein Jahr lang ging das so, bis 1996 mit dem Stadtteilbüro „Info-Winterhude“ in der Preystraße 8 neue Räume gefunden wurden.

Ein Erfolg, der wichtig ist für Hagemann. Auch sonst „hat sich das Image der Initiative positiv gewandelt: von dem der Querulantin hin zu einem ernstzunehmenden Gesprächspartner für die offiziellen Stellen“. Und dafür, soviel ist klar, wird sie auch weitere 15 Jahre sieben Tage wöchentlich arbeiten.

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