Ein halber Kontinent im Krieg: Weite Teile Afrikas sind heute ähnlich zugrunde gerichtet wie Deutschland im Dreißigjährigen Krieg. Gibt es gemeinsame Ursachen für hinterhältige Morde, schonungslose Angriffe auf Frauen und Kinder und brennende Städte? Von Dominic Johnson

Völker als kollektive Feindbilder

Die Rebellen sind verjagt, aber Freetown ist eine Stadt des Todes. In den Straßen der Hauptstadt von Sierra Leone picken Geier an verwesenden Leichen, während die Führung der nigerianischen Eingreiftruppe Ecomog am späten Donnerstag den Sieg über die Rebellenbewegung RUF (Revolutionäre Vereinigte Front) verkündet. Eingeflogene Berichterstatter treffen auf herumirrende Bewohner zwischen verkohlten Ruinen. Im mit Einschußlöchern übersäten Präsidentenpalast leben Flüchtlinge, die aus den Vororten auf der Suche nach Nahrung ins Stadtzentrum gelaufen sind. Aber es gibt nichts. „Wir haben seit acht Tagen nichts gegessen“, erzählt ein Geschäftsmann. Humanitäre Hilfe läßt die Regierung bei der Rückeroberung Freetowns nicht zu. Der Staat Sierra Leone liegt buchstäblich in Trümmern.

Brennende Städte, hungernde Zivilisten, skrupellose Militärs, zerfallende Staaten: Selten tobten in so vielen Orten Afrikas gleichzeitig so brutale Bürgerkriege wie heute. Nicht nur Freetown brennt. Quer durch Zentralafrika, von Angola und dem Süden Kongo-Brazzavilles über die Demokratische Republik Kongo bis in Teile von Burundi, Ruanda, Uganda und des Süd-Sudan, erstreckt sich ein riesiges Gebiet, wo wechselnde marodierende Heere die Idee eines geordneten Lebens zur Fiktion werden lassen. Und von Senegal über Nigeria bis Somalia gibt es Regionen, in denen Frieden ein Fremdwort ist.

Weite Landstriche Afrikas sind mittlerweile ähnlich zugrunde gerichtet und entvölkert wie Deutschland während des Dreißigjährigen Krieges. Viele der gebräuchlichen Kategorien, mit denen diese Entwicklung begreifbar gemacht werden soll, greifen ins Leere. So hört man von Menschenrechtsorganisationen häufig den klagenden Hinweis, die Kämpfer seien ja oft halbe Kinder, traumatisiert und voller Drogen, die aus nächster Nähe das Abschlachten ihrer Angehörigen oder Freunde miterleben mußten, bevor sie zwangsrekrutiert wurden. Der Begriff des Kindersoldaten, der eigentlich sein Leben noch vor sich haben sollte, relativiert sich jedoch in Regionen, wo die allgemeine Lebenserwartung 30 Jahre selten überschreitet und wo die marodierenden Jugendlichen häufig größtenteils HIV-infiziert sind.

Was als Soldaten oder Rebellen daherkommt, sind oft einfach Desperados ohne andere Lebensperspektive, weniger mit Kampffähigkeiten als mit Haß ausgestattet und zum Überleben auf das Plündern angewiesen. Den Mächtigen, auch einigen Regierungen, dienen solche Banden als Schutz, und ihre Mittel werden offiziell gebilligt. Tribalismus und Stammesdenken reichen als Erklärung nicht aus, wenn Morden selektiv ist, wenn Loyalität ethnisch definiert wird, wenn die finstersten rassistischen Beschimpfungen ausgerechnet von den unmittelbaren Nachbarn der so Benannten kommen.

Die Rückübertragung der aus Europa eingeführten Begriffe „Stamm“, „tribe“ oder „tribu“ auf die afrikanische Realität verschachtelter Verwandtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse kann fatale Folgen haben. An die Stelle der sozialen Harmonie als politisches Ideal rückt die Reinheit der Rasse. Der politische Gegner wird zum Fremdkörper erklärt. Seine Entmenschlichung ist dann Voraussetzung für seine programmierte Auslöschung, wie bei der von höchster Stelle sanktionierten Jagd auf Tutsi in Kinshasa im vergangenen Sommer.

Wechselseitiges Mißtrauen, oft von politischen Führern angeheizt, läßt manche Konflikte wie kollektive Pokerpartien mit Einsätzen in Menschenform erscheinen. Die Bevölkerung des umkämpften Gebietes wird insgesamt zum Feind erklärt. Man hungert sie aus, vertreibt sie oder vernichtet sie ganz. Zwischen Kämpfenden und Zivilisten wird keine Unterscheidung mehr gemacht – es kann ja, das ist seit dem ruandischen Völkermord bekannt, jeder zur Machete greifen. Die schablonenartige Einführung einfacher Mehrparteiensysteme, wo die Partei mit den meisten Stimmen an die Macht kommt, begünstigt auch den Wunsch, Machtrivalitäten mittels der Reduzierung der Mitgliederzahl der Gegenseite zu klären.

Es gibt auch auffallende ursächliche Gemeinsamkeiten zwischen den Kriegen Afrikas. Eine ist der Umstand, daß viele von ihnen die mineralienreichsten Gegenden Afrikas heimsuchen: die Diamantenminen von Sierra Leone und Angola, die Ölfelder Nigerias und Kongo-Brazzavilles, die Goldminen und Plantagen der Demokratischen Republik Kongo. Der Reichtum unter der Erde, der schon die Europäer anlockte, ist der denkbar hartnäckigste Auslöser von Konflikten um die Wohlstandsverteilung – denn er bleibt immer da, und die Frage, wem er und die Einnahmen daraus gehören, ist in den meisten Fällen nie zur allgemeinen Zufriedenheit geklärt worden. Diese Art Reichtum scheint der kürzeste Weg aus dem Busch an die Weltspitze zu sein – auf jeden Fall einfacher und gewinnträchtiger als die Emigration nach Europa, eine exportorientierte Landwirtschaft oder die Unterstützung des Handwerks. Erst wenn faire Regeln für die Ausbeutung und Vermarktung von Afrikas Naturreichtümern gefunden sind, an die sich ausländische Investoren ebenso halten wie die einheimischen Bevölkerungen, können diese Kriege aufhören.

Ein zweites Element, das zuweilen vom ersten nicht zu trennen ist, ist die Staatsform der betroffenen Länder. Die hartnäckigsten Konflikte toben dort, wo sich Bevölkerungen nie mit dem für sie zuständigen Staatswesen abgefunden haben. Der mittlerweile 40jährige Krieg im Sudan ist darauf ebenso zurückzuführen wie die neuen Aufstände in Nigeria und auch in etwas abgewandelter Form die Kriege Liberias und Sierra Leones – zwei Länder, die niemals auch nur den Versuch eines Ausgleichs zwischen ihren Bevölkerungen machten und wo die Kluft zwischen kosmopolitischem Stadtleben und finsterstem Elend auf dem Lande immer besonders groß war. Zentralafrika krankt an einer konfliktträchtigen Verteilung von Bevölkerungen und Territorien, die immer wieder Rufe nach einer Neudefinition der Staaten oder sogar einer Neuziehung der Grenzen laut werden läßt.

Unter solchen Umständen ist verständlich, warum das Herstellen und Organisieren stabiler Lebensverhältnisse für Abermillionen Afrikaner immer eine hoffnungslose Utopie geblieben ist. Friedenspolitik in Afrika kann nur bedeuten, alles Gegebene radikal in Frage zu stellen. Die Menschen in zerstörten Ländern wie Sierra Leone sind schon längst dazu gezwungen.