: Wer macht das Spiel?
„He Got Game“ ist weniger ein Film über Spike Lees Liebe zum Basketball als die Kritik des lange schon nicht mehr funktionierenden Sport- und Hochschulsystems der USA. Nur die College-Athleten sind noch Amateure, wie sie selbst das IOC nicht mehr kennt ■ Von Thomas Winkler
„Ich liebe das Spiel“, sagt Spike Lee, „und im Film zeigen wir es während der Eröffnungssequenz, wenn die Credits ablaufen.“ Das ist wahr. „He Got Game“, vom deutschen Verleih als „Spike Lees Spiel des Lebens“ zu so etwas wie einem Monty-Python-Film getitelt, beginnt mit Basketball, wie er jeden Tag an allen möglichen Orten gespielt wird: quer durch Amerika, von den kleinen Dörfern im Mittleren Westen bis in die Ghettos der Metropolen. Kurze Momente in Extremzeitlupe, Bälle, die durch den Ring fallen, Dribblings durch die Beine, dazu die Musik von Aaron Copland. In diesen zwei oder drei Minuten kann man die Faszination des Spiels spüren. Das Spiel ist schön, sagt diese Sequenz, im Spiel liegt eine Reinheit, die das Leben sonst niemals erreicht, nicht erreichen kann.
„In diesem Film geht es nicht nur um Basketball“, sagt Lee noch. Auch das ist wahr: „He Got Game“ ist ein Film über einen Vater-Sohn-Konflikt, vielleicht sogar eine recht hellsichtige Analyse des Zustands der afroamerikanischen Community, aber er ist ganz bestimmt nicht der Film, den man von einem erklärtermaßen fanatischen Basketballfan wie Lee erwartet hätte: Er ist kein Film über die Liebe zum Basketball.
Den Nerv des Publikums scheint Lee trotzdem getroffen zu haben. Die Kritiker konnten sich zwar nicht einigen, ob sie nun „mehr Ambition als Talent“ (Newsday) oder „einen der besten Filme von Spike Lee“ (CNN) gesehen haben wollten. Aber „He Got Game“ setzte an seinem ersten Wochenende nur etwas weniger um als Lees bisher größter kommerzieller Erfolg „Malcolm X“ und war sein erster Film, der es an die Spitze der amerikanischen Boxoffice-Charts schaffte.
Ähnlich wie den Bus zum Million Men March in „Get On The Bus“ hat Lee „He Got Game“, die Saga vom Basketballer und den ihm umgebenden Verführungen, mit idealtypischen Figuren besetzt, die ganz bewußt Klischees entsprechen. Da ist der Spieler aus den Sozialbauten von Coney Island in Brooklyn, New York, weil wohl nirgendwo sonst auf so engem Raum so viele großartige Basketballer aufgewachsen sind. Da ist der Vater, der wegen Totschlags an seiner Frau im Gefängnis sitzt und deswegen – wie mehr als die Hälfte aller afroamerikanischen Väter – abwesend ist. Da ist der Gouverneur ein so großer Basketballfan, daß er seine Macht mißbraucht, um seiner Alma Mater einen guten Spieler zuzuschanzen. Da ist die Freundin, die mit dem Spieler schläft, um ihren Teil vom Kuchen abzubekommen. Da ist der Trainer, der mit allen legalen und illegalen Mitteln versucht, den Spieler an sein College zu locken. Und da ist der schmierige Agent, der dem Spieler verspricht, NBA-Millionen für ihn auszuhandeln.
Alles Klischees, alles Idealtypen. An ihnen führt Lee die Mechanismen des Sports vor, wie er in den USA organisiert ist. Man kann auch sagen: Er diskutiert den Kapitalismus anhand des von ihm so geliebten Basketball.
Jesus ist 19 Jahre alt und „the No. 1 prospect in the country“, das größte Talent seines Highschool- Jahrgangs. Nun kann er wählen zwischen einem Sportstipendium an einem beliebigen College oder einem millionenschweren Vertrag, sollte er sofort Profi werden. Es ist seine Chance. Er ist aber auch die Chance aller, die ihn kennen. Der örtliche Zuhälter, die Kumpels, die Freundin, seine kleine Schwester, alle erhoffen sich die Rettung von Jesus.
Neben Musik ist der Sport immer noch die realistischste Lebensperspektive für männliche schwarze Teenager in den USA. Vor allem im Basketball herrscht Goldgräberstimmung: Das Durchschnittsgehalt in der Basketball-Liga NBA liegt bei über zwei Millionen Dollar jährlich. Doch vor der Profikarriere steht meist noch immer die College-Karriere. Die besten Nachwuchsathleten werden von mehreren großen Scouting-Agenturen evaluiert, beurteilt und in Ranglisten eingeteilt. Dann kommen die großen Universitäten und umwerben sie für ihr Sportprogramm. Die besten Spieler sind Afroamerikaner, die besten Universitäten WASP-Hochburgen – also dominiert von weißen, angelsächsischen Protestanten. Manchmal sind die einzigen schwarzen Studenten an einem College die fünf Starter des Basketballteams.
Häufig sind die Teams die einzige Attraktion in kleinen Uni- Städten mit einem großen Einzugsgebiet, aber auch in Großstädten ziehen die College-Mannschaften oft mehr Zuschauer an als die mit ihnen konkurrierenden Profiteams. Es gibt Footballteams, die regelmäßig vor 80.000 Menschen spielen. Die Universitäten verdienen Millionen von Dollars mit Eintrittsgeldern und Fernsehrechten an den von ihnen organisierten Spielen. Allein 188 Millionen Dollar zahlt der Fernsehsender CBS jährlich, um die von der National Collegiate Athletic Association (NCAA) veranstalteten Basketballturniere um die Meisterschaft übertragen zu dürfen.
Mit dem, was die Basketball- und Footballprogramme an Überschuß produzieren, werden hochmoderne Sportanlagen gebaut, die erfolgreichen Trainer nicht allzu schlecht bezahlt und zudem die anderen Sportarten und damit auch die Grundlage für die olympischen Erfolge der USA mitfinanziert. Nur die Spieler sind noch Amateure, wie sie nicht einmal mehr das IOC kennt.
Von Overland Park, Kansas, aus, wo die 250 Mitarbeiter der NCAA in einem dunklen, viereckigen Glaskasten residieren, der von Einheimischen „Darth Vader Building“ genannt wird, werden 902 Universitäten und mehr als 300.000 weibliche und männliche, von der NCAA so getaufte „student-athletes“ überwacht.
Mit einem 579 Seiten starken Regelbuch, in dem sogar festgelegt ist, was ein Tag ist („Ein Tag soll ein Kalendertag sein“), versucht die NCAA zu verhindern, daß der Amateurstatus ausgehöhlt wird, der sich für die Spieler als Quasi- Leibeigenschaft auswirkt. Walter Byers, bis 1987 selbst Direktor der NCAA, schrieb in einem Buch, in dem er nach seiner Pensionierung mit der Institution abrechnete, der er 36 Jahre lang vorstand: „Der College-Amateurstatus ist keine moralische Frage. Es ist die ökonomische Verschleierung einer monopolistischen Praxis.“ So ist den „student-athletes“ jeder Nebenerwerb ebenso strikt verboten wie Kontakt zu Agenten.
Vor allem das sogenannte „recruiting“, die Anwerbung von Highschool-Spielern für das College durch Trainer und ihre Assistenten, unterliegt einer Vielzahl von Regeln. Die NCAA erhält pro Woche ungefähr 2.000 Anfragen von Colleges und Spielereltern, was Bestimmungen und ihre Auslegung betrifft. Es ist so exakt festgelegt, wie viele Schulen ein Spieler wie oft und wie lange besuchen darf, um sich ein Bild von seiner zukünftigen Universität zu machen, ob und zu was er eingeladen werden und was er an Geschenken bekommen kann, daß Überschreitungen unvermeidlich sind. Wenn der Trainer der Mutter eines Highschool-Spielers, den er während eines Spiels beobachtet, seine Jacke leiht, weil sie friert, ist das theoretisch bereits „illegaler Kontakt“ zu einem Rekruten. Wenn Jesus bei einem seiner Besuche im Bett einiger Schönheiten landet, ist das mit Sicherheit illegal, aber kaum weit von der Realität entfernt. Ebensowenig wie der Briefumschlag mit den 10.000 Dollar, den ihm sein Highschool-Coach über den Tisch schiebt, um seine Entscheidung zu beeinflussen.
Eigentlich sollten die Richtlinien den College-Sport sauber halten und die Sportler schützen. Aber der College-Sport ist ein so gutes Geschäft geworden, daß die Colleges längst ihre eigenen Vorschriften umgehen. Für hoffnungsvolle Talente aus den Ghettos, die nicht die akademischen Eingangsvoraussetzungen erfüllen, werden von interessierten Unis schon mal Doppelgänger engagiert, die für ein paar hundert Dollar den standardisierten Eingangstest im Namen der durchgefallenen Spieler machen.
Wenn sie erwischt werden, drohen den Colleges Sanktionen wie Ausschluß aus dem NCAA-Turnier oder das Verbot, Stipendien auszuloben. Dann erhalten NCAA-Mitarbeiter von Studenten oder Absolventen betroffener Schulen regelmäßig Todesdrohungen. Es ist bekannt, daß ehemalige Absolventen, darunter auch Kongreßabgeordnete und Senatoren, versucht haben, Einfluß zu nehmen, wenn ihre Alma Mater nicht für das Teilnehmerfeld des lukrativen NCAA-Basketballturniers aufgenommen wurde. Lee läßt in „He Got Game“ einen Gouverneur einen Deal mit dem von Denzel Washington gespielten Vater von Jesus abschließen: In einer Woche Knasturlaub soll der seinen Sohn überzeugen, für die ehemalige Universität des Gouverneurs zu spielen – dafür wird seine Strafe verkürzt.
Währenddessen wird Jesus von seiner Freundin, seinem Onkel, Agenten, dem örtlichen Kleinkriminellen, ja sogar von seiner kleinen Schwester bedrängt, das College gleich zu überspringen und sofort in die NBA zu gehen. Dort winkt ihm ein gut dotierter Profivertrag. Kobe Bryant von den Los Angeles Lakers oder Kevin Garnett von den Minnesota Timberwolves hat das aus dem Stand zu Stars gemacht. Die Zeiten, in denen die wirklich guten Spieler tatsächlich die insgesamt möglichen vier Jahre am College spielen, sind lange vorbei, die besten Spieler werden bereits nach ein oder zwei Jahren Profi. Doch jedem erfolgreichen Frühabgänger stehen mindestens genauso viele gegenüber, denen von Agenten ein Floh ins Ohr gesetzt wurde und die bei keinem Profiteam unterkamen. Nun können sie nicht mehr an der Uni spielen, um sich doch noch für die Profis zu empfehlen, und für einen regulären Abschluß fehlen ihnen die finanziellen Mittel.
Der Auftritt von John Turturro als College-Coach Billy Sunday in „He Got Game“, in dem er Jesus mit blumigen Worten an sein College locken will, mag zwar komödiantisch inszeniert sein, findet aber seine Entsprechung in der Realität. Die meisten College-Trainer sind längst schon keine Lehrer mehr, sondern Manager und Öffentlichkeitsarbeiter eines Unternehmens mit Millionenumsätzen. Dabei haben die Universitäten den Spielern, die nicht gut genug sind für eine Profikarriere in der NBA, der kanadischen CBA oder den europäischen Ligen, außer Ruhm und Ehre offiziell nichts zu bieten als eine kostenlose Ausbildung. Eine Studie der NCAA ergab unlängst, daß den Sportstipendiaten sogar durchschnittlich 200 Dollar monatlich zum Leben fehlen. Während ihre Trainer Millionen durch Werbeverträge mit Sportartikelherstellern verdienen, ist es den „student-athletes“ verboten, in ihrer Freizeit zu jobben, weil sie sich in Abhängigkeiten begeben könnten. Wo also kommt das Geld her, wenn die Familie zu Hause von Sozialhilfe lebt? In den letzten Jahren wurden immer wieder Spieler suspendiert, weil sie sich mit Buchmachern eingelassen und Spiele manipuliert hatten.
Lee hat sicherlich schon unterhaltsamere Filme gedreht, aber selten wohl einen farbenblinderen. Die Gier macht alle gleich, ob weiße Trainer und Agenten oder die schwarzen Verwandten von Jesus, der sich schlußendlich weigert, überhaupt jemanden zu retten. Schließlich wurde er auch nicht nach dem Heiland benannt, sondern nach Earl „The Pearl“ Monroe, dessen Spitzname „Jesus“ war. „Ich wollte dir den Namen des Allerbesten geben“, sagt der Vater zu seinem Sohn. Hier endlich spricht dann doch die Liebe von Spike Lee zum Basketball, denn dessen Lieblingsspieler ist Monroe, seit der in den 70ern für Lees abgöttisch verehrte New York Knicks spielte.
„He Got Game“. R+B: Spike Lee. Mit Denzel Washington, Ray Allen, Milla Jovovich, Rosario Dawson u.a. USA 1998, 135 Min.
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