Gekokst, gesoffen, gekifft für den heiligen Zwischenzustand

■ ...Judith Hermanns „Sommerhaus, später“ dagegen erhält den Förderpreis für die virtuose Liebkosung unvermeidlichen Scheiterns

„Sommerhaus, später“, heißt der Erzählband, für den die 28jährige Judith Hermann morgen 10.000 Mark, die sich Förderpreis nennen, bekommt. Aber meistens bewegen sich ihre oft sehr alten und oft sehr jungen Außenseiter durch regennasse Straßen oder blicken auf ein ruinöses Haus, daß vor lauter Schneegestöber kaum zu sehen ist. Und wenn es mal heiß ist, wird auf den angekündigten Hurrican gewartet und gewartet und gewartet.

Im Zentrum der meisten Geschichten steht die pure Unscheinbarkeit. Über ganze Seiten hinweg kann sich Hermann vertiefen in den Moment, wo ein ins Alltagseinerlei weggetauchter Altenheimbewohner, doch noch einmal Menschsein versuchen: Eine fremde, junge Frau zwingt ihn zu einem drei Minuten langen Palavern – für ihn ein schweißtreibendes Monsterabenteuer, wie für andere Drachenfliegen oder Schlangenzüchten. In einer anderen Geschichte beschreibt Hermann einen Spaziergang: Protagonisten des Anschweigens sind ein mit seiner Bürgersnormalität nur halb ausgesöhnter, mediokrer Drehbuchschreiber und die Tochter seines früheren Kiffkumpels. Die Nebensätze sind es, oder flüchtige Erinnerungssprengsel, in denen Hermann dann doch noch Berge von Biografie nachliefert. Außerdem stoßen Randblicke fast Seite für Seite zu überraschenden Skurillitäten durch: ein Mann, der im Sommer immer die knallroten Jacken der Müllmänner trägt; ein Irrer, der Tag für Tag auf der Straße „Zuviel Elektrizität“ plärrt; Menschen, die ihre Hamster mit einem Fußkick aus dem Weg räumen oder auf einer Party ins Megaphon plärren; ein winziger Mensch, der mitten auf der Straße einen Handstand macht. Lauter Aus-der-Rolle-Gefallene.

So verbindet Herrmann akribischen Naturalismus, dem noch nicht einmal das kleinste Zittern eines Barthaars entgeht, mit surreal-kafkaesker erzählerischer Freizügigkeit. Die Auswirkungen auf die LeserIn sind frappierend: Mitten in den kuriosesten Geschichten blitzt es: Genau so ist es!

Kein einziges Mal verfällt Hermann in standartisierte Wahrnehmungsklischees. Was sieht der allererste Blick auf einen fremden Menschen? Bei Hermann nicht Mund, Auge, Statur, sondern einen aufgekratzten Mückenstich am linken Fußknöchel und einen Leberfleck: die selektive, intensivierte Wahrnehmungsweise der Kiffer. Und so nimmt es denn kein Wunder, daß in diesen Erzählungen furchtbar viel gekokst, gekifft und gesoffen wird, bis jener Schwebezustand erreicht wird, wo die Personen nicht mehr wissen: Ist es Stumpfsinn oder Weisheit, Trauer oder Glück. Meist läuft dazu Musik im Hintergrund, Massive Attack, David Bowie, die Callas, Bach und vieles mehr. Wie bei „American Psycho“, das im Buch übrigens Erwähnung findet, werden Logos und Namen zu Kennziffern von Lebensgefühl.

Gemordet aber, wird bei Hermann nicht. Hier entwickelt sich nämlich eine Prosa, die endlich mal nicht mehr klagt über die Abwesenheit von klarer, geradliniger Liebe, sondern sich freut über flüchtige, seltsame, schwer griffige Gefühlesverschlingungen zwischen den Menschen. Die Fülle aus Scham, Nichtausgesprochenen, Belästigung, Peinlichkeit ist eigentlich genauso spannend und dicht, wie die kleinen Momente, wo ein Mann und eine Frau doch noch auf dem Partysofa zusammenfinden. Mal gibt es einen Mann, dessen Wortschatz sich nur auf einen einzigen Satz beschränkt: „Ich interessiere mich nicht für mich selbst.“ Und trotzdem gibt es eine Frau, die sich für seine fischgrauen Augen interessiert. bk

Collection S. Fischer, 190 S., 20 DM