Subkultur in der Konserve

Jede Revolte endet im Museum: Das Literaturhaus zeigt „Protest!“ – eine Ausstellung über die „Literatur um 1968“. Und siehe da, alles war aber auch ganz anders  ■ Von Jörg Magenau

Die Musealisierung der Geschichte ist so unaufhaltsam wie der Fortgang der Zeit. In Sachen „1968“ und „Protest“ mutet es dennoch seltsam an, sich nun über die Vitrinen des Literaturhauses zu beugen, um von den papierenen Überresten der Revolte abzulesen, wie es wirklich war, damals. Und siehe: Es war alles ganz anders. Vielfältiger, offener, bunter und widersprüchlicher, als die zählebigen Ho-Ho-Ho-Chi- Minh-, Tod-der-Literatur- und Dokumentartheater-Klischees behaupten. Wirklichkeit – das ist einer der seltsamsten Aspekte von Geschichte und Historisierung – stellt sich immer erst nachträglich her, und auf eine Phase der Typisierung, der Vereindeutigung, folgt die Problematisierung, die alles wieder in Frage stellt.

„Protest! Literatur um 1968“ heißt die vielgelobte Ausstellung des Literaturarchivs Marbach, die Literaturhaus-Leiter Herbert Wiesner nun für sein Haus nach Berlin geholt hat, um sie am Ort des Geschehens zu zeigen. So erwirbt sich nun ausgerechnet das gediegene, gutbürgerliche Literaturhaus Nachlaßverwaltungsverdienste in Sachen Protest. Der Marsch durch die Institutionen endet naturgemäß in den Vitrinen.

Die Schwierigkeiten im Umgang mit 1968 beginnen mit der Datierung. Wann „1968“ wirklich begann, ist umstritten. „1967, das wir heute 1968 nennen“, schrieb der damalige Suhrkamp-Lektor Urs Widmer 1979, um darauf hinzuweisen, daß bereits im Jahr vor 1968 die protestrelevanten Ereignisse wie Anti-Schah-Demonstration und Tod von Benno Ohnesorg waren. Und schon am 5. Februar 1966 fand die erste große Demonstration gegen den Vietnamkrieg mit Eierwürfen auf das Amerika Haus statt. Die Ausstellung geht noch weiter zurück und läßt „1968“ vom Ende der 50er Jahre bis in die Mitte der 70er laufen. Vorgeschichte und Nachwirkungen gehören schließlich auch dazu.

Eine Rehabilitierung des Jahres 1966 versuchte auch Friedrich Christian Delius in seiner Rede zur Ausstellungseröffnung. 1966 sei alles noch im Aufbruch und weniger festgelegt gewesen, sagte er, der mit der Erzählung „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ bereits die literarische Erforschung des Alltags der Zeit vor 68 betrieben hat. Er erinnerte nun daran, daß die Vorbehalte gegen eine allzu schlichte Protestliteratur unter der Autorenschaft schon damals viel weiter verbreitet waren, als man heute glaubt. So ist es auch nicht viel mehr als eine Legende, daß das vielzitierte Kursbuch 15 den „Tod der Literatur“ proklamiert habe. In Wirklichkeit, so Delius, sei es den Autoren um die Verteidigung der Literatur gegen ihre Kritiker gegangen.

Die Ausstellung zeigt die ganze Vielfalt der Haltungen und Schreibweisen in thematischen Querschnitten, wo gegenüber der politisch-asketischen Linie immer wieder die ästhetisch-üppige von Happening und Drogenrausch stark gemacht wird. Am intensivsten gelingen die Auseinandersetzung mit „Avantgarde und Subkultur“ und die Darstellung der von Leslie A. Fiedler ausgelösten Postmoderne-Debatte. Martin Walser, der damals Geld für das „Büro für Vietnam“ sammelte, verteidigte fulminant das „Engagement als Pflichtfach“ des Autors gegen die Zumutungen einer auf Mythen rekurrierenden, gegenaufklärerischen Unterhaltungsindustrie.

Im Mittelpunkt des Interesses stehen Autoren wie Bernward Vesper, Hubert Fichte, Rolf Dieter Brinkmann oder Peter Handke, die die Revolte radikal subjektiv und als Aufstand der ästhetischen Form betrieben. Agitprop-Hardcore wird dagegen eher am Rande abgehandelt. Wichtiger erscheinen sogar noch die 68er Nachwehen, die in Frauenliteratur und neue Innerlichkeit mündeten: Verena Stefan, Karin Struck und die Folgen.

Eine mittlerweile auch wieder Geschichte gewordene Errungenschaft der Revolte waren die Raubdrucke als charmanter Versuch, der Herrschaft der „Bewußtseinsindustrie“ zu entkommen. In der Ausstellung sind einige davon zu sehen, Titel wie „Was ist Klassenbewußtsein“ von Wilhelm Reich oder „Wissenschaftliche Intelligenz, Schulung, Organisationsfrage“ von Georg Lukács. Die Raritäten überdauerten immerhin die Ausstellung in Marbach, ohne geklaut zu werden. Ausstellungsmacher Ulrich Ott ist nun gespannt, ob das in Berlin auch funktioniert. Zur Not, sagte er, habe man im Marbacher Archiv noch Zweitexemplare. „Aber das hätte ich bessser nicht verraten.“

Literaturhaus, Fasanenstr. 23, täglich, außer dienstags, 11 bis 19 Uhr, bis 7. März. Katalog: 672 S., 40 DM