Gesundheitspolitik vor dem Offenbarungseid

Auf Druck der Krankenkassen sollen in Berlin Krankenhäuser geschlossen werden. Immer neue Streichlisten verunsichern Klinikpersonal und Patienten. Einen Ausweg aus Berlins verfahrener Gesundheitspolitik läßt Senatorin Beate Hübner nicht erkennen  ■ Von Sabine am Orde

Eine Protestwelle wie in den vergangenen drei Wochen hat Berlin schon lange nicht mehr erlebt: Täglich demonstrieren Hunderte, bisweilen gar Tausende, sammeln Unterschriften, schalten ganzseitige Anzeigen in den Lokalzeitungen. Ursache und Ziel des Protests: Berlins Gesundheitssenatorin Beate Hübner (CDU) oder besser gesagt: ihre Krankenhauspolitik.

Denn vor drei Wochen wurde eine Streichliste aus Hübners Verwaltung bekannt, nach der die Senatorin mehr als 20 komplette Krankenhäuser und verstreut liegende Nebenstandorte einzelner Kliniken schließen will. Insgesamt 68 Kliniken mit 26.500 Betten hat Berlin heute, etwa 60.000 Menschen arbeiten derzeit in ihnen. Nach Hübners Plänen sollen es im Jahre 2004 immerhin 4.500 Betten und 7.000 MitarbeiterInnen weniger sein.

Berlin steht kopf, wie es das bereits im August einmal tat, als ein von Senat und Krankenkassen in Auftrag gegebenes, externes Gutachten erstmals die Schließung zahlreicher Kliniken forderte. Und als wären zwei Listen nicht für die Öffentlichkeit verwirrend und für die KlinikmitarbeiterInnen verunsichernd genug, warfen die Krankenkassen zeitgleich mit Hübner eine dritte Liste in die Debatte. Die Irritation könnte nicht größer sein.

Am Wochenende nun soll es Klarheit geben in Sachen Krankenhausschließungen. Die Krankenkassen, entnervt vom jahrelangen Hinhalten der Berliner Gesundheitspolitik, haben eine Deadline gesetzt. Legt Senatorin Hübner nicht bis zum ersten Februar Vorschläge für massive Einsparungen – und die Kassen meinen Schließungen damit – vor, wollen diese Versorgungsverträge mit einzelnen Kliniken kündigen. Die Patientenversorgung in diesen Häusern wäre nicht mehr von der Krankenversicherung gedeckt, die Kliniken in ihrem Bestand bedroht. Einen „Offenbarungseid der Berliner Gesundheitspolitik“ nennt das der grüne Gesundheitsexperte Bernd Köppl.

Die Kassen drängen seit Jahren auf Einsparungen

Überraschend ist der Vorstoß der Kassen nicht. Seit Jahren drängen sie auf Einsparungen bei den überteuerten Berliner Krankenhäusern. Daß hier dringender Handlungsbedarf besteht, wissen und akzeptieren alle gesundheitspolitischen Akteure der Stadt, von den Grünen und der ÖTV bis zur CDU und der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG), die alle Träger vertritt. Sie alle kennen das Dilemma der hiesigen Krankenhauslandschaft, die nach der Wende zwei überversorgte und medizinisch hochgerüstete Stadtteile vereinigte. Zwar wurden seitdem bereits Tausende von Betten abgebaut, doch noch immer gibt es überproportional viel Hochleistungsmedizin. Viele Kliniken – an Vollfinanzierung gewöhnt – arbeiten unwirtschaftlich.

So kostet die Behandlung eines Patienten in Berlin durchschnittlich 9.506 Mark, im Bundesdurchschnitt sind es nur 6.210 Mark. Die hohen Krankenhauskosten sind mitverantwortlich für die extrem hohen Beitragssätze der hiesigen Kassen, bei der AOK sind es derzeit 14,9 Prozent. Würde durch einen kasseninternen Finanzausgleich nicht jährlich mehr als eine Milliarde Mark nach Berlin gepumpt, wären die Sätze noch viel höher. Die AOK rechnet mit 17 Prozent, konkurrenzlos teuer also. „Eine Katastrophe für den Wirtschaftsstandort Berlin“, wie es der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) nennt. Doch die Bundesverbände der Kassen haben bereits vor einigen Monaten das Ende der Zahlungen angedroht, wenn Berlin seine Kliniken nicht reformiere. Eine Milliarde soll eingespart werden, genau die Summe also, die jährlich in die Hauptstadt fließt.

Gießkannenprinzip statt struktureller Reformen

Das wußte auch die Berliner Gesundheitspolitik, doch sie handelte nicht. Statt notwendige strukturelle Reformen in den Kliniken anzugehen, sparte sie nach dem Gießkannenprinzip, also überall ein bißchen. Und das auch nur, wenn der Druck der Kassen allzu massiv wurde. Diesen haben die Kassen nun noch erhöht: Sie wollen Schließungen, am liebsten die der städtischen Häuser. Weil von diesen kein juristischer Widerstand zu erwarten ist, könnte hier – aus Kassensicht – am schnellsten gespart werden. Private und freigemeinnützige Träger dagegen haben bereits angekündigt, juristisch gegen mögliche Schließungen vorzugehen. Ein Rechtsstreit könnte Jahre dauern. Zudem fordern die Kassen, was später diskutiert werden wird – die vollständige Privatisierung der städtischen Kliniken.

Gesundheitssenatorin Hübner hat sich längst mit Klinikschließungen arrangiert. Im Gegensatz zu den Kassen scheint sie dabei freigemeinnützige Träger vorzuziehen, auf ihrer Streichliste fanden sich nämlich überproportional viele konfessionelle Kliniken. Begründet hat die Senatorin das nicht. Der Vorteil – aus ihrer Sicht – aber liegt auf der Hand: Während in städtischen Kliniken betriebsbedingte Kündigungen dank der mächtigen ÖTV nicht durchsetzbar sind, wurden sie bei privaten und freigemeinützigen Trägern bereits praktiziert. Das Land würde auch nicht auf dem Personal sitzenbleiben. Hübner kann zwar nur städtische Kliniken schließen, doch die anderen kann sie als Leiterin der Planungsbehörde aus dem Krankenhausplan herausnehmen. Weil dann die Patientenversorgung nicht mehr von den Kassen finanziert wird, kommt das einer Schließung gleich.

Rückendeckung auch für harte Einschnitte bekommt Hübner vom Regierenden Bürgermeister, auch wenn dieser seit dem massiven Protest der katholischen Kliniken alle Träger gleichmäßig mit den Einsparungen belasten will. „Der Senat und ich sind entschlossen“, so Diepgen jüngst, „dieses schwierige und unpopuläre Thema zu schultern, weil wir es müssen.“ Diepgen weiß, daß sich Vertragskündigungen von seiten der Krankenkassen oder gar eine Pleite der Berliner AOK auch nicht gut verkaufen lassen.

Die CDU scheint das weit weniger zu belasten als die Aussicht, für Krankenhausschließungen und den Verlust Tausender Arbeitsplätze verantwortlich zu sein. Statt über gesundheitspolitische Konzepte zu reden, machen sich CDU- Abgeordnete derzeit gerne für das Krankenhaus im eigenen Wahlkreis stark, nach massiven Protesten der katholischen Häuser schloß die CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus kurzzeitig sogar die Schließung katholischer Häuser in Gänze aus.

Die SPD hält sich nicht für zuständig

Die SPD dagegen hält sich zurück. Ihr parlamentarischer Geschäftsführer, der Gesundheitsexperte Hans-Peter Seitz, verweist bei der Frage nach sozialdemokratischen Konzepten für die Krankenhäuser gerne darauf, daß schließlich Frau Hübners Verwaltung für die Klinikplanung zuständig sei. Die SPD fordere Schließungen nicht, schließe sie aber auch nicht aus. Auch die Sozialdemokraten wollen sich mit Krankenhausschließungen nicht die Hände schmutzig machen. Doch immerhin traf – durch die erneute Drohung der Kassen aufgescheucht – sich die Koalition am vorletzten Wochenende und beschloß Eckpunkte zur Krankenhausreform. Einer davon: Alle Trägergruppen, auch die Unikliniken, sollen proportional an den Einsparungen beteiligt werden.

Anders als die Koalition lehnen die Gewerkschaft ÖTV, die Bündnisgrünen und auch die Berliner Ärztekammer Klinikschließungen ab. Sie alle glauben, daß Schließungen die Probleme der hiesigen Krankenhäuser nicht lösen werden, sondern daß strukturelle Veränderungen in den einzelnen Häusern vonnöten sind. „Sonst werden einige Kliniken geschlossen, und die anderen lehnen sich zurück und machen weiter wie bisher“, sagt die ÖTV-Vorsitzende Susanne Stumpenhusen und schließt nicht aus, daß in manchen Kliniken schlicht ein anderes Management notwendig sei.

Die Grünen haben jüngst ein eigenes Sparkonzept vorgelegt, das auf „strukturelle Kostensenkung“ setzt. Danach sollen auch große Krankenhäuser verpflichtet sein, Hochleistungsmedizin abzubauen und die Hälfte ihrer Betten in der kostengünstigeren Basisversorgung anzusiedeln. Außerdem sollen sich alle Kliniken in trägerübergreifenden regionalen Krankenhausverbünden zusammentun. Der Vorteil: Medizinische Dienstleistungen wie Labor oder Apotheke, aber auch Einkauf, Speiseversorgung oder ganze Verwaltungseinheiten könnten zentralisiert werden. Auch die medizinische Doppelversorgung in der Region könnte dadurch abgebaut werden.

Über dieses Konzept werden sich Hübner und ihre Große Koalition am Freitag vermutlich keine Gedanken machen, wenn sie erneut über die Krankenhausschließungen beraten werden. Dann wird es wohl zu einem Kompromiß zwischen den drei Streichlisten kommen, Häuser aller Trägergruppen sind also vom Aus bedroht. Ob es danach zu den dringend notwendigen Reformen innerhalb der verbleibenden Krankenhäuser sowie der beiden Unikliniken mit ihren vier Standorten kommen wird, bleibt abzuwarten. Den endgültigen Krankenhausplan will der Senat im April verabschieden. Klar aber ist, daß sich am Wochenende die Proteste zuspitzen werden, Ärzte und Pflegekräfte des 600-Betten-Krankenhauses Moabit haben einen Hungerstreik angekündigt.