Aldilachs und Plastegouda

Der Feinschmecker ist überall. Bei Karstadt grabscht er sich mit Schuhwichse gefärbten Kaviar, bei Kaisers zieht er mit echt norwegischem Lachs aus der original Meeresmästerei im Einkaufskörbchen davon. Und beim Käse greift er gern zu mildem Gouda, mittelalt, im gefühlsechten Plasteüberzug. Dabei geht es auch anders: Mit einem Gutenachtliedchen für die Milchlieferantin im Stall wird der handgerührte Käse eine Pracht. Eine Polemik gegen die Pseudodemokratisierung des guten Geschmacks  ■ Von Ursula Heinelmann

Beim Durchschauen der Post fällt mir eine Zeitschrift in die Hände: Käse & Wein. Interessant, ich schiebe dringendere Aufgaben beiseite und fange an zu lesen. „... Die Mittelmosel, Bereich Bernkastel, ist ... berühmt für ihre feingliedrigen, fast verspielten Rieslinggewächse“, ja, stimmt, „die im trockenen Bereich zu Schmelzkäse ein Gedicht sind ...“ Schmelzkäse! Armes Deutschland! Den langweiligsten aller deutschen Industriekäse soll ich zu einer feingliedrigen Spitzenflasche aus dieser Ecke „genießen“? Beim weiteren Durchblättern fällt auf, daß es sich bei dem Käseblättchen um eine Gemeinschaftsproduktion vom Deutschen Weininstitut und der CMA handelt, wahrscheinlich denken sie bei besagten Rieslinggewächsen an andere als ich. Es ist eben doch nicht so weit her mit der deutschen Käsekultur, denke ich, da geht doch nichts über unsere französischen Nachbarn, la Grande Nation!

Kaum ausgesprochen, grinst Paul Bocuse aus der Zeitung – und was tut der Halbgott der Cuisine du Marché zwischen deutschem Gouda und Allgäuer Emmentaler? Er macht Reklame für „Cambozola“. Eben noch als Zugpferd der „Grande Cuisine nach guter alter Tradition“ ganzseitig im Feinschmecker gefeiert, jetzt schon wieder so geldgeil und sich nicht zu schade für Industriekäse. Laut Bocuse allerdings: „Excellent – dieser Käse verdient drei Sterne!“ Er ist angeblich Marktführer in diesem Segment. Zitat vom verantwortlichen Redakteur der Veröffentlichung, Rolf Klein: „Weil ja jeder für möglichst wenig Geld möglichst gut genießen will. Darin sind sich die allermeisten von uns übrigens sehr einig. Diejenigen, die sich von dieser großen Mehrheit absetzen, heißen Snobs. ... Wenn die Herstellung von Käse oder Wein in größeren Mengen tatsächlich auf Kosten der Qualität ginge ...“ Hat der Mann ein Problem mit seinen Sinnesorganen? Schmeckt ihm Cambozola wirklich genauso gut wie ein Spitzengorgonzola?

Neben „möglichst wenig Geld“ und „möglichst gut“ gibt es bei der leider großen Mehrheit ein weiteres entscheidendes Kriterium: möglichst bequem. Alles muß sich ohne große Anstrengungen und Aufregungen einkaufen und runtermampfen lassen. „Cambozola“ hat weder einen ausgeprägten Geruch wie ein echter, gereifter Camembert aus der Normandie, noch den kräftigen Geschmack eines echten Gorgonzola aus der Lombardei. Es führt kein Weg daran vorbei: Wahrer, ursprünglicher, authentischer Genuß erfordert die ganze Aufmerksamkeit der Sinne, muß erarbeitet werden. Wein wird oft als kompliziert angesehen: Rebsorten, Jahrgänge, Lagen, Winzer, jede Abweichung bei einem dieser Faktoren kann zu einem vollkommen unterschiedlichen Geschmacksbild führen. Doch Spitzenkäse ist mindestens ebenso kompliziert, und hier gibt es noch nicht mal eine Flasche, will sagen Etikett mit Angaben zu Alter oder Hersteller.

Ein Chaource kann wie besserer Philadelphia schmecken oder, bereits laufend am Rand, feinherb und säuerlich mit einer zartnussigen Note, der ideale Begleiter zu gutem „Blanc de Blanc“-Champagner. Den ersteren kann ich bestimmt in einem Kaufhaus oder Supermarkt erstehen, er wird in einer größeren Käserei aus der Milch einer oder mehrerer Genossenschaften, will sagen vieler Bauern hergestellt. Letzterer dagegen stammt von einem bestimmten Bauernhof, die Kühe einer bestimmten Rasse stehen auf ganz bestimmten Wiesen. Klima und Boden bedeuten eine ganz bestimmte Zusammensetzung von Pflanzen und damit Aromen. Und wenn die Bäuerin sich die Hand bricht oder Krach mit ihrem Mann hat, gibt es unter Umständen eine Zeitlang keinen Käse. Doch wenn es ihn gibt, dann führt diese Anbauharmonie zu einem ausgeprägten Charakter und Geschmacksbild, das beim ebenfalls Chaource erzeugenden Nachbarn ganz anders ausfallen kann, weil der seinen Kühen eben ein anderes Gutenachtlied singt.

Solche Käse sind nicht ewig haltbar, sie verlangen einen gewissen Aufwand beim Transport und Sachkenntnis bei der Lagerung. Und sie brauchen einen guten, vertrauenswürdigen Händler, damit löst sich auch das Problem, daß es kein Etikett gibt. Natürlich haben solche Käse ihren Preis – fair enough, würde ein Engländer sagen. Der Bauer muß auch leben können von seiner Arbeit, und anstatt nach Mallorca zu düsen und ein dickes Auto zu fahren, kann man sein Geld auch in authentischen Lebensmitteln anlegen. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg wurde – in Relation zum Einkommen – so wenig Geld für Nahrungsmittel ausgegeben wie heute.

Es geht mitnichten darum, aus Snobismus der breiten Masse den Genuß vorzuenthalten. Was heute an den Feinschmeckertheken der Supermärkte gegeben wird, ist ein Gaukelstück mit dem Titel: „Jeder kann sich alles leisten“ – egal ob Räucherlachs, Champagner oder Tomaten im Winter. Wir haben es geschafft, wir haben es verdient, wir können es uns leisten. Wir gehen einkaufen und werfen ein plastiküberzognes Päckchen mit der Aufschrift „Mittelalter Gouda“ in unser Wägelchen, für einen lächerlich niedrigen Preis. Wir sind anscheinend zufrieden. Manchmal hört man zwar Klagen, die Dinge – Gemüse, Obst, Wurst – sie schmeckten nicht mehr so gut wie früher, aber wirklich störende Gedanken machen wir uns nicht darüber. Die Verbindung zwischen Geschmacksnerven und Hirn scheint bei den meisten dauerhaft unterbrochen.

Vor ein paar Jahren gab es in Bremen noch ein Kolonialwarengeschäft der alten Art, wo man Cayennepfeffer fünfziggrammweise in Papierspitztüten kaufen konnte und auch alten Gouda. Aber wirklich alten! Bröckelig wie guter Parmesan, doch feuchter, leicht süßlich und unvorstellbar intensiv. Ebenso überraschend bin ich vor einer Weile auf einen echten alten Edamer gestoßen, der mit dem unter diesem Namen allgemein heute Angebotenen nur die rote Farbe der traditionellen Wachsrinde gemeinsam hatte.

Durch gewinnmaximierte und bequeme Massenproduktion, wie zum Beispiel die bodenlosen, voll computergesteuerten Antiterroir-Gemüseanbaumethoden der Holländer, hat sich eine Demokratisierung des äußeren Scheins breitgemacht, die bis zur völligen Wesenlosigkeit der Produkte geht, bei der ein Camembert schließlich aus Rügen kommt und als „milder Käse“ verkauft wird.

Meine Großmutter hat im ersten Weltkrieg wie viele andere gehungert. Ein dick bestrichenes Butterbrot bei der Tante war für sie ein solches Erlebnis, daß sie seitdem nur Butter gegessen hat, Margarine und ähnliches kam ihr nicht ins Körbchen. Seit einer Reihe von Jahren kauft sie ihre Butter nur noch in einem bestimmten Reformhaus. Nicht, weil sie sich einbildet, die wäre dort gesünder, sondern „weil das Zeug aus dem Supermarkt nach überhaupt nichts schmeckt.“ Und daß der Räucherlachs von Aldi und der vakuumierte „Deutsche Gouda“ nur wie Fisch oder Käse aussehen, aber tatsächlich nach nichts schmecken, das scheint vielen gar nicht mehr aufzufallen.

P.S.: Übrigens schmeckt zu den „feingliedrigen, fast verspielten Rieslinggewächsen“ von der Mittelmosel ein nicht zu reifer Ziegenkäse aus der Touraine fantastisch, besonders wenn der Wein einige Gramm Restsüße hat!

Ursula Heinzelmann, 35, arbeitete lange als Sommelière und führt heute mit Philippe Causse den Käseladen „Maitre Philippe“ in Berlin-Wilmersdorf.