piwik no script img

„Es ist ein sehr offenes Haus“

Jenseits von Altenheim und Wohnstift: Im Wohnprojekt der Grauen Panther in der Lerchenstraße versuchen vier Generationen, unter einem Dach miteinander auszukommen  ■ Von Gernot Knödler

Als Gertrud starb, war gerade ein Fernsehteam im Haus. Mit der Kamera auf der Schulter und dem Mikrofon überm Kopf spähten die JournalistInnen in Wohnstuben, filmten das Plenum und den Garten. Nichts Besonderes für die BewohnerInnen des Panther-Hauses auf St. Pauli, regelmäßig kommen JournalistInnen, angehende ArchitektInnen, SoziologInnen und AltenpflegerInnen in die Lerchenstraße, um zu sehen, wie so etwas funktionieren kann: mindestens vier Generationen unter einem Dach.

Gertrud war 94, Karl ist beinahe 77, Hartwig und Inge sind beide 55, Ulrike zählt 42 und Friederike zweieinhalb Lenze. Auch dazwischen gibt es alle möglichen Lebensalter. Sie duzen sich, helfen einander und feiern gemeinsam. Die Panther haben von der Wohnungsgesellschaft Saga einen Generalmietvertrag, das Wohnprojekt wählt seine neuen Mitglieder selbst aus; jede Untermietpartei hat eine Wohnung für sich.

Es gibt einen Garten mit Grillplatz, eine L-förmige Terrasse und im Erdgeschoß Gemeinschaftsräume: Büros der Grauen Panther mit sauber beschrifteten Aktenordnern sowie einen großen Saal mit Klavier und einer bestimmt sieben Meter langen Tafel. „Unser Plenum braucht ja einen großen Tisch“, sagt die 42jährige Ulrike Petersen, treibende Kraft und Integrationsfigur des Wohnprojekts. An der Wand hängt ein Plakat gegen Ausländerfeindlichkeit („Dein Auto ist ein Japaner, Deine Pizza italienisch ...“), auf dem Tisch liegen Broschüren zur Agenda 21 über nachhaltige Entwicklung.

„Vordenkerinnen à la Trude Unruh“ lehnen die Mitglieder ab

Ihr politisches Interesse hat die Frau mit dem kurzen rotblonden Haar zu den Hamburger Grauen Panthern geführt – nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Gruppe um Trude Unruh, wie Ulrike betont. Die Hamburger existieren als selbständiger Verein seit 1980. „Die Mitglieder treten für ein würdevolles, lebensbejahendes und eigenverantwortliches Dasein aller und besonders alter Menschen bis zum Ende des Lebens ein und lehnen ,Vordenkerinnen' à la Trude Unruh, ,Senioren-Schutz-Bünde' oder ,Überparteien' ab“, heißt es im Vorwort zu einer Broschüre zum gemeinschaftlichen Wohnen von Alt und Jung.

Ulrike, ein „Brokdorf-Kind“, wie sie selbst sagt, fand bei den Panthern das, was sie bei den Parteien vermißte: Menschliche Verbindungen verwoben mit politischem Engagement. „Ich fand die Alten ja klasse, wie die auf den Putz gehauen haben“, sagt sie begeistert. Die Grauen Panther hätten sich am Problem der Altenheime abgearbeitet und dieser „gesellschaftspolitischen Idee etwas entgegensetzen“ wollen: So ist die Alternative der generationenübergreifenden Wohnprojekte entstanden.

Karl Koppelmann, Ulrikes fast 77jähriger Nachbar, wohnte früher in einem Haus in Norderstedt mit mehr als 100 Mietparteien. „Mehr als Guten Tag und Guten Weg“, sagt er, „war da nicht.“ Ganz anders hier in der Lerchenstraße: „Man kommt nicht einfach so in den dritten Stock“, erzählt Karl. Hier ein Schwätzchen, da will einer klönen; während sich die HausbewohnerInnen im Sommer vor allem draußen auf der Terrasse austauschen, dient im Winter das Treppenhaus zur Kontaktaufnahme. Die hochbetagte Gertrud zum Beispiel muß „'ne richtige Quasselstrippe gewesen“ sein. „Das zeigt, daß man auch im hohen Alter noch Freude am Leben hat“, findet Karl. Der 76jährige nimmt auch an einer Kochgruppe teil, zu der sich mehrere BewohnerInnen zusammmengetan haben. Ein zusätzlicher Esser ist stets eingeplant.

„Wir nutzen die tollen Fähigkeiten, die die einzelnen haben“, sagt Ulrike. Karl betont: „Alle Männer hier im Hause kochen.“ Mit einer Macho-Einstellung hätte er auch keinen Stich gemacht, als er vor viereinhalb Jahren hier einzog. „Ich habe es vermieden, hier eine Männerrolle zu übernehmen“, sagt er. Als zum ersten Mal die „Infogruppe“ in die Lerchenstraße kam, um sich über den aktuellen Entwicklungsstand des Vereins zu informieren, sei es für ihn ganz selbstverständlich gewesen, das Kaffeegeschirr abzutrocknen. „Die haben Stielaugen gekriegt“, sagt Karl schmunzelnd.

Ebenfalls selbstverständlich sind die kleinen Hilfestellungen der Hausbewohner füreinander, nach dem Prinzip: „Ich komm' jeden Morgen zu dir 'rein und guck, wie's dir geht.“ Karl profitierte davon, als es ihm vor einiger Zeit nicht gut ging – dafür saß er selbst bei der inzwischen verstorbenen Gertrud am Bett, hörte sich ihre Geschichten an und half ihr in die Windeln. „Im Alter stellt sich doch schon einiges ein“, sagt er nüchtern.

Das Altenheim käme für Ulrike und Karl nicht in Frage

Aber die Hausbewohner achten darauf, daß jedeR das selbst tut, was er oder sie selbst tun kann. Ein Brot für einen „Oldie“ kleinzuschneiden, der dazu noch selber in der Lage ist, kommt nicht in Frage. „Wir wollen jeder unser Leben leben“, sagt Ulrike, „aber mal vier Wochen auf meine privaten Abendtermine zu verzichten, weil es Gertrud schlecht geht, damit hab ich kein Problem.“ Das Projekt in der Lerchenstraße geht zwar davon aus, daß sich seine Mitglieder grundsätzlich selbst versorgen können, trotzdem nimmt es Notfälle auf, und im Grunde, so Ulrike Petersen, könnte ein neuer Mieter auch „seinen eigenen Pflegedienst mitbringen“. Das hänge von der aktuellen Mischung an BewohnerInnen ab.

Ein Altenheim käme weder für Ulrike noch für Karl in Frage, solange es sich irgendwie vermeiden läßt. „Ich möchte da nicht alt werden“, sagt die junge Frau, und Karl ergänzt: „Man ist zwar nicht allein, aber man ist trotzdem einsam.“ Hier im WoPro dagegen sei es möglich, so viel Kontakt zu haben, wie gewünscht – aber auch so wenig.

Karl wie Ulrike glauben, daß es durchaus riskant ist, sich auf so ein Multi-Generationen-Ding einzulassen. „Ich hab' das am Anfang selbst als prekäres Experiment betrachtet“, bekennt Ulrike ein wenig beschämt. Als „Eigenbrödlerin“ habe sie – obwohl Mitgründerin – nicht geglaubt, daß sie lange durchhalten würde. Heute sagt sie: „Ich glaub', wenn man 'mal so gelebt hat, ist es schwer, sich davon zu entfernen.“

Karl, der in ein bestehendes Projekt einzog, sorgte sich zunächst, er könnte nicht akzeptiert werden, machte dann aber die Erfahrung, „es ist ein sehr offenes Haus“. Andererseits sei es natürlich für Menschen, deren ganzes Leben um eine Familie kreiste, möglicherweise schwierig, sich umzustellen. Karl hatte damit wohl deswegen keine Probleme, weil er 20 Jahre lang als Betriebsrat ständig mit vielen Leuten zu tun hatte.

Der gelernte Elektriker freut sich, daß im WoPro das Leben tobt: Zu Feiern werden die HausbewohnerInnen komplett eingeladen und lernen so die Freunde der anderen kennen. Er selbst macht Öffentlichkeitsarbeit, führt Gäste durchs Haus und sieht zu, daß der Garten einigermaßen ansehnlich bleibt. In seinem schmalen Schlafzimmer hat er außerdem noch eine elektrische Eisenbahn aufgebaut, mit einem Haufen integrierter Schaltkreise unterm Steuerpult. Mikroelektronik weist Karls Zügen den Weg.

Vielleicht wird sich Friederike, Ulrikes zweieinhalbjährige Tochter, in einigen Jahren von Karl in die Welt der fortgeschrittenen Modelleisenbahnen einweisen lassen. Derzeit spielt das jüngste Mitglied des Wohnprojekts noch mit einer, wenn auch stattlichen, Holzeisenbahn. Obwohl Ulrike ihre Hausgenossen keineswegs als stets verfügbare Babysitter mißbraucht. „Man soll das nicht überstrapazieren“, sagt sie. Schließliche gebe es ja auch noch andere Leute in ihrem Leben. Von der Lebenserfahrung mancher alter NachbarInnen dagegen hat sie sich gerne Anstöße geben lassen. „Da hatte Else immer ganz eigentümliche Gedanken“, erzählt Ulrike von einer Freundin. Als sie zum Beispiel vom Freitod einer Bekannten berichtete, kommentierte Else: „Hut ab!“

Selbst wenn manche BewohnerInnen im Streit aufeinanderkrachen, hängt das, so Ulrike und Karl, weniger von den Altersunterschieden ab als von Sympathie und Antipathie sowie der psychischen Disposition des einzelnen. Da unterscheidet sich das Wohnprojekt nicht von einem normalen Mietshaus. „Es passiert alles, was unter Menschen so abläuft“, sagt Karl.

Die Gruppe trägt diejenigen mit, denen es schlecht geht

Kompliziert werde die Sache allerdings, wenn sich mit dem zunehmenden Alter seelische Veränderungen einstellten, ergänzt Ulrike. Eine Mitbewohnerin habe unter Verfolgungswahn gelitten, eine andere mußte in die Psychiatrie eingeliefert werden. Aber nur ein einziges Mal in zwölf Jahren habe sich das Wohnprojekt externe Hilfe geholt, um die Gruppendynamik unter Kontrolle halten zu können. In der Regel trägt die Gruppe diejenigen mit, denen es schlecht geht. „Ich werd' nie vergessen, wie wir Weihnachten in Ochsenzoll gefeiert haben“, schwärmt Ulrike.

Selbst die Trauerfeier für Gertrud sei eigentlich gar keine gewesen. Schließlich hatte sie fast die 95 erreicht und habe im übrigen das Prinzip „Leben und leben lassen“ verfochten. „Gertrud saß auf Wolke sieben und kuckte zu uns runter“, erinnert sich Karl. „Die einzigen, die betroffen waren, waren die vom Filmteam.“

Die Grauen Panther planen zur Zeit neue Wohnprojekte. Am ersten März von 19 bis 21 Uhr stellen sie in ihrem Treffpunkt in der Zimmerpforte 8 in St. Georg die Idee einer „Kunst-Wohn-Pflege-Hausgemeinschaft“ vor. Bereits ab 17.30 Uhr können sich am Thema Wohnprojekte Interessierte formlos kennenlernen. Die Grauen Panther sind an Montagnachmittagen unter Tel. 77 96 14 oder 24 80 96, dienstags und donnerstags am Nachmittag unter Tel. 439 33 88 zu erreichen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen