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■ Erste Autonomen-Planstelle in Stuttgart eingerichtetAuf Nummer Sicher

Ansgar zur Mühlen (23) schließt die Schnalle seiner Lederhose, streicht sich vor dem Flurspiegel ein letztes Mal durch die kolorierten Haarstoppel und zählt die Brauenringe durch: Ja, sie sind alle noch da. „Noi zum Schwoinesystöm“, radebrecht er und zeigt seinem Spiegelbild den schlimmen Finger. Mit dem einheimischen Idiom hat Ansgar zur Mühlen noch Probleme, denn er kommt aus Hildesheim.

Seit einem Monat lebt er in Stuttgart als Autonomer, auf Kosten der Stadt, mit Dienstwohnung und Angestelltenvertrag. Zu verdanken hat er das einer Initiative der Stuttgarter Jungliberalen. Normalerweise ziehen politisch engagierte junge Menschen, sobald sie können, von Stuttgart nach Berlin um. Auf Dauer, meinten einige Julis, werde dieser Aderlaß dem Ansehen der Stadt schaden. Nach jahrelangem Hin und Her ist jetzt in Stuttgart die erste Autonomen- Planstelle eingerichtet worden. Die Stelle wurde bundesweit ausgeschrieben, und die Stadtväter entschieden sich für Ansgar zur Mühlen, weil er als einziger Bewerber schon einmal verhaftet worden war, wegen Ladendiebstahls.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, in Stuttgart sollen Recht und Ordnung herrschen“, sagt der Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU). „Aber wir haben nichts gegen junge Leute mit unbequemen Meinungen. Sie bereichern das kommunale Ambiente, unterstreichen unsere Weltoffenheit und fördern somit auch den Tourismus. Und bevor wir dem Wildwuchs Tür und Tor öffnen, nehmen wir die Sache lieber selbst in die Hand. Da können wir lenkend und beratend oder im Notfall auch bremsend eingreifen.“

Aus autonomen Kreisen in Berlin und Göttingen ist Ansgar zur Mühlen schon heftig angefeindet worden. Man wirft ihm Verrat, Opportunismus und Bestechlichkeit vor. Es soll auch schon eine Morddrohung gegeben haben. Doch Ansgar zur Mühlen ficht das nicht an. „Dös isch dr blanke Sozialneid. I dräh trotzdem moi Runde im Stuergotter Kiez“, erklärt er. „Linke Zusammehäng uffbaue ...“

Unauffällig wird er dabei von zwei Zivilpolizisten begleitet. Vor allem im Polizeipräsidium stieß das Projekt zunächst auf Widerspruch. Erst nach einer Dienstreise ins französische Avignon, das bis vor kurzem mit ähnlichen Imageproblemen wie Stuttgart zu kämpfen hatte, dachten die Beamten um. In Avignon belebt bereits ein Dutzend bezahlter Rebellen unter staatlicher Aufsicht das Stadtbild, und nach anfänglicher Skepsis betrachten inzwischen sogar Stammwähler rechtsextremer Parteien die rabiat kostümierten und sich gebärdenden Radikalen als liebenswerte Attraktion. Das Konzept der machtgeschützten Revolte hat sich bewährt.

Dennoch geht man in Stuttgart auf Nummer Sicher. Für seine Graffiti erhält Ansgar zur Mühlen einmal wöchentlich Schablonen und genaue Auflagen, welche Bauzäune er besprühen darf. Auch die Spraydosen werden von der Stadt gestellt, gegen Quittung. Sein Mittagessen nimmt er in der Kripokantine ein. Mehr als wahlweise einen Schoppen Wein oder einen halben Liter Bier pro Tag darf er nicht trinken, und Drogen sind natürlich tabu. Der Vertrag sieht einen vierteljährlichen Gesundheitscheck vor. Sollte sich dabei herausstellen, daß zur Mühlen gegen eine der Vertragsklauseln verstoßen hat, wird das Angestelltenverhältnis sofort gelöst.

Andererseits genießt er dafür auch das Vorrecht, einmal im Monat unter vier Augen beim Oberbürgermeister vorsprechen und „Tacheles“ reden zu dürfen, ohne ein „Blatt vor den Mund“ zu nehmen. Das erste dieser Gespräche hat Ansgar zur MÜhlen in guter Erinnerung: „I hob dem Bürgermeischtr gloi gsteckt, wo uns Linke dr Schuh drückt, und er hütt versproche, Abhilfe zu schaffe. I ko dös etz nit an bestimmte Einzelheite festmoche, abr mr wer scho sää...“

Freunde hat er noch keine gefunden in Stuttgart. Das liegt vielleicht daran, daß er die Wochenenden nach wie vor in Hildesheim verbringt, wo seine Mutter wohnt. Drei, vier Jahre, meint er, könne er den Job noch machen, dann werde er zu alt dafür sein. Und was kommt danach? Des woiß i net. Des isch Zukumpft“, ruft er. „Venceremosch!“ Dann springt er in den ICE, der ihn nach Hildesheim bringen wird. Es ist Freitagnachmittag. So entschwindet Stuttgarts erster und bis heute einziger Autonomer ins Wochenende. Das hat er sich verdient. Gerhard Henschel

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