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„Seit zehn Jahren wurde das Risiko nicht geprüft"

■ Lothar Hahn, Physiker beim Öko-Institut in Darmstadt, über die Wahrscheinlichkeit eines GAU

taz: Der Schutz von Gesundheit und Leben der Bürger erfordere eine Neubewertung der Risiken der Atomenergie, heißt es im Entwurf der rot-grünen Atomgesetznovelle. Sind die deutsche AKWs doch nicht die sichersten der Welt?

Lothar Hahn: Daß sie die sichersten Reaktoren der Welt hätten, behaupten doch alle: die Franzosen, die Amerikaner oder auch die Schweden. Außerdem muß man für solche Aussagen sein Wissen über die Sicherheit der Reaktoren im Lande regelmäßig überprüfen und auf den neuesten Stand bringen. In der Bundesrepublik ist das seit zehn Jahren nicht geschehen.

Aber bisher sind die Bundesbürger doch von katastrophalen AKW-Störfällen verschont geblieben.

Alle Reaktoren zusammen sind in der Bundesrepublik bisher etwa 600 Betriebsjahre gelaufen. In dieser Zeit gab es viele besorgniserregende Ereignisse und auch bedenkliche Störfälle, etwa in Biblis im Dezember 1987 und das Vorkommnis im AKW Unterweser im Juni letzten Jahres.

Läßt sich die Wahrscheinlichkeit einer wirklichen AKW-Katastrophe in der Bunderepublik denn abschätzen?

Nur mit ganz großen Unsicherheiten und Vorbehalten. Die Wahrscheinlichkeit für einen Unfall, bei dem der Reaktorkern schmilzt, liegt bei den deutschen Kraftwerken zwischen einmal in 10.000 und einmal in einer Million Reaktorbetriebsjahren. Das sind die Zahlen, die in den letzten 20 Jahren ermittelt worden sind. Festzuhalten ist in jedem Fall, daß es zu einer Kernschmelze kommen kann. Wenn es dazu kommt, ist eine sehr große Katastrophe mit Auswirkungen wie etwa in Tschernobyl wahrscheinlich.

Wie groß wäre denn nun das Risiko, wenn alle deutschen Reaktoren noch 20 Jahre laufen würden?

Dafür muß man dieses auf Rekatorbetriebsjahre berechnete Risiko mit der Zahl der Reaktoren, also mit 19, multiplizieren und anschließend noch einmal mit den 20 Betriebsjahren. Dann läge das Risiko eines Kernschmelzunfalls nicht mehr bei 1 zu 10.000 sondern rund bei 1 zu 25. Wenn man allerdings die günstigeren Prognosen zur Grundlage nehmen würde, wäre das Risiko bis zu hundertmal geringer.

Worin liegen die Schwächen solcher Studien?

In ihnen werden nicht alle relevanten Unfallmöglichkeiten erfaßt. Krieg und Sabotage werden völlig außer Acht gelassen. Auch nicht jedes mögliche menschliche Fehlverhalten wird berücksichtigt, etwa strategische Fehler des Reaktorpersonals, Fehler der Interpretation des Zustandes der Atomanlage. Es gibt schon bei den Eingangsdaten so große Unsicherheiten, daß das Studienergebnis noch einmal eine Schwankungsbreite um das zehnfache nach oben und unten hat. Man kommt so in Risikobereiche, bei denen die Gefahr real ist, daß durch einen schweren AKW-Unfall ganze Landstriche in der Bunderepublik unbewohnbahr werden können. Man hat etwa im Zuge der Arbeit an der letzten, 1989 abgeschlossenen Risikostudie der Gesellschaft für Reaktorsicherheit festgestellt, daß in Biblis ein bestimmter Unfalltyp nicht beherrschbar ist und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Katastrophe geführt hätte. Nach dem Schreck mußte man sofort Maßnahmen ergreifen. Interview: Jürgen Voges

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