: Entscheidung für die Ewigkeit
■ Bei den Verhandlungen über den Ausstieg aus der Atomkraft geht es nur um die Kosten. Die Gefahren einer Reaktorkatastrophe und des Atommülls geraten dabei aus dem Blick. Doch noch nach 100.000 Jahren ist das Erbe einer 40jährigen Technik nicht verschwunden
Am 28. März 1979 kommt es im US-amerikanischen Harrisburg zu einem Unfall, der bis dahin von den Betreibern als unmöglich bezeichnet wurde: Ein Drittel des Brennkerns des Atommeilers Three Mile Island schmilzt und gerät außer Kontrolle. Verstrahltes Wasser überflutet weite Teile des Reaktors, Radioaktivität entweicht, und selbst der Direktor des Unglücksreaktors ist nach dem Desaster überrascht, „daß der Reaktordruckbehälter dem Unfall standhielt“. Zwanzig Jahre später haben in Deutschland die Konsensgespräche über den Ausstieg aus der Atomkraft begonnen. Doch selbst Bundeswirtschaftsminister Werner Müller, per Koalitionsbeschluß auf den „unumkehrbaren Ausstieg“ verpflichtet, will nicht ausschließen, daß man in ferner Zukunft die Kernkraft wieder braucht – „ich halte das für denkbar“, orakelte der Minister gestern im Handelsblatt.
Seitdem Kanzler Gerhard Schröder sich bereits im Wahlkampf festgelegt hatte, daß ein Ausstieg aus der Atomenergie in jedem Fall entschädigungsfrei erfolgen müsse, hat sich die Debatte immer mehr zu einer Debatte um Geldbeträge entwickelt. Die Risiken spielen keine Rolle mehr. Doch die Atomkraft ist nicht völlig beherrschbar – das ist die Lehre aus dem Reaktorunglück von Harrisburg, als technisches Versagen in Verbindung mit Bedienungsfehlern die Brennstäbe zum Schmelzen brachten. „Die große Bedeutung dieses Vorfalls beruht darin“, schrieb ein paar Jahre später der Physikprofessor und Atomkraftgegner Jens Scheer, daß dies kein „sozusagen erlaubter Unfall“ war. Die Erbauer hatten ihn nicht vorhergesehen und deswegen keine Vorsorge treffen können.
Nun hielt in Harrisburg der Druckbehälter durch glückliche Umstände noch stand. Nicht so sieben Jahre später in Tschernobyl, als die Radioaktivität auch über Deutschland niederregnete. Doch für die deutsche Atomindustrie war der Unfall von Harrisburg die größere Katastrophe, weil er mit westlicher Technik geschah. Die Atomkraftbetreiber verweisen gerne darauf, daß es nur ein kleines Restrisiko für eine Kernschmelze gebe. Doch seriöse Angaben über die wirkliche Unfallwahrscheinlichkeit lassen sich bei so komplexen technischen Anlagen nicht pauschal machen, ganz egal, ob für Hochgeschwindigkeitszüge wie den ICE oder für AKWs (siehe Interview).
Als nach der Kernschmelze 1986 in Tschernobyl in Deutschland die Stimmung zuungunsten der Atomkraft kippte und auch die SPD den Ausstieg ins Programm aufnahm, versprachen die Betreiber, den deutschen Sicherheitsstandard zu verbessern. Doch die Versprechungen wurden größtenteils nicht eingehalten, urteilt das Darmstädter Öko-Institut.
Keine private Versicherungsgesellschaft ist heute daher bereit, ein Atomkraftwerk gegen einen Unfall zu versichern. Schon 1957 schätzte die US-Regierung, daß eine Kernschmelze bis zu 145.000 Tote fordern und 17 Milliarden Dollar kosten könnte. Eine prognos-Studie im Auftrag der damaligen Bundesregierung ermittelte 1992 Kosten nach einem schweren Unfall in Biblis B von über 10.000 Milliarden Mark. Selbst nach der geplanten Atomnovelle von Trittin müßten die Stromkonzerne nur bis zu einem Schaden von fünf Milliarden Mark haften – das „Restrisiko“ trägt der Bund.
Auch das Problem des Atommülls ist nach wie vor ungelöst. Der Begriff „Entsorgung“ führt ohnehin in die Irre, denn das strahlende Material läßt sich nicht einfach beseitigen. So oder so wird es noch Hunderttausende von Jahren brauchen, bis die radioaktiven Brennstäbe zu harmloseren Elementen zerfallen sind. Zeit genug für eine Reihe von Eiszeiten, die Oberfläche der Erde ordentlich umzupflügen. Fraglich auch, ob unsere Gesellschaft dann noch existiert. Das Problem geht also damit los, ein Endlager so zu kennzeichnen, daß eine spätere Kultur unsere Hieroglyphen als Warnung vor Strahlenmüll entziffern kann.
Bisher ist in Deutschland noch nicht mal ein geeigneter Standort gefunden. Nur ein Salzstock in Gorleben wurde bislang erkundet, über den die niedersächsische Landesregierung unter Schröder schon vor sieben Jahren schrieb, daß eine sichere Lagerung dort nicht möglich sei.
Eigentlich darf in Deutschland nur der Atomstrom produzieren, der einen „Entsorgungsnachweis“ hat. Bislang gilt die Wiederaufarbeitung im Ausland als ein solcher Nachweis, obwohl durch das Verfahren die gefährliche Müllmenge unterm Strich sogar verdreifacht wird. Ganz abgesehen davon entsteht durch die Wiederaufarbeitung tonnenweise radioaktive Flüssigkeit, die ins Meer verklappt wird. Laut einem Gutachten im Auftrage Niedersachsens wären die Wiederaufarbeitungsanlagen in La Hague und Sellafield nach deutschen Sicherheitsstandards nicht genehmigungsfähig. Matthias Urbach
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