Noch 1.360 Tage bis zur Wahl

■ Schnell gestartet, gleich gestolpert: In den ersten 100 Tagen seiner Regierung hat sich Rot-Grün an vielen Reformen versucht. An zu vielen. Die Bilanz des Neuanfangs fällt selbst beim kleineren Koalitionspartner kritisch aus

Berlin (taz) – Jahrelang fieberten SPD und Bündnisgrüne dem Regierungswechsel entgegen. Dann war er da. Heute vor 100 Tagen übernahm Gerhard Schröders Mannschaft die Aufgabe, das Ruder herumzureißen. Eilig stolperten die rot-grünen Spitzenleute aus den Startlöchern. Die Bilanz des angekündigten Neuanfangs fällt nicht nur bei der Opposition vernichtend aus. Sogar der kleinere Regierungspartner gibt sich selbstkritisch.

Die Bundesregierung müsse „mehr Mut“ beim Durchsetzen ihrer Vorhaben zeigen, klagte gestern die grüne Parteichefin Antje Radcke und forderte Rückgrat gegenüber Atomlobbyisten, Wirtschaftsfunktionären und Einzelinteressen. „Man kann es nicht allen recht machen.“ Im Zweifelsfall müsse man sich auch gegen Widerstand durchsetzen. Zu denen, denen man es gar nicht recht machen will, gehören für die Grünen auch Mitglieder aus der Regierung selbst. Bundeswirtschaftsminister Werner Müller etwa, der öffentlich verkündete, irgendwann mit einer neuen Reaktortechnik Atomenergie wiedereinführen zu können.

Zwar erfreut sich Kanzler Schröder trotz vieler Pannen und Medienschelte traumhafter Umfragewerte. Auch der grüne Außenminister Joschka Fischer steht auf der Beliebtheitsskala weit oben und wird auf internationaler Ebene geradezu überschwenglich gelobt. Doch als echtes Stimmungsbarometer für das „System Schröder“, die vollmundigen Ankündigungen und halbherzigen Umsetzungen, das Herumhampeln beim Atomausstieg und die verpatzte Steuerreform, gelten die Wahlen am Sonntag in Hessen.

Indirekt abgestimmt wird dann auch über die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft, auf die Rot-Grün so stolz ist und die die christliberale Opposition mit Unterschriftenlisten anfeindet. Schröder selbst findet sich gut. Na ja, es habe einige „handwerkliche Fehler“ gegeben, doch bei dem „hohen Tempo“, das die Koalition der Nation biete, passiere das eben. Und der Streit? Der stellt, anders als der regelmäßige Zoff in der Regierung Kohl, die neue politische Diskussionskultur unter Beweis. Die ersten 100 Tage des rot- grünen Projekts sind geschafft; jetzt gilt es nur noch 1.360 Tage bis zur nächsten Bundestagswahl zu bewältigen. sim

Berichte und Kommentare zum rot-grünen Start auf den Seiten 3, 7, 9, 11, 12 und 16