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Die Stoßdämpfer

Bei der Bahn zu arbeiten ist nicht immer lustig. Dennoch tut ein richtiger Eisenbahner seinen Dienst und ist vorsichtig mit Kritik. Nachforschungen in einem Alltag zwischen verspäteten Zügen und steigenden Preisen, genervten Kunden und ziemlich arroganten Chefs  ■ Aus Hannover Georg Löwisch

Es gibt Augenblicke, da möchte sie ihre rote Mütze absetzen und in der Anoraktasche verschwinden lassen. Zum Beispiel an den Freitagen, wenn ein ICE einfährt und 50 verspätete Anschlußreisende auf den Bahnsteig spült. Aber schließlich ist sie Service-Mitarbeiterin, und schließlich muß den 50 jemand erklären, warum sie den Interregio verpaßt haben, das Abendessen und das Kino danach. Sie sagt: „Man muß fest auf dem Boden stehenbleiben und den Seelenklempner spielen.“

Einfach ist das nicht in Hannover auf dem Hauptbahnhof. Es gibt wenige Punkte in Deutschland, wo sich so viele Intercity- und ICE- Verbindungen zwischen Nord und Süd, Ost und West kreuzen. Dazu kommen Nahverkehrsbahnen aus Celle oder Hildesheim. Täglich kommen 130.000 Reisende an, fahren ab, steigen um: ein empfindliches Verbindungssystem aus 700 Zügen, das regelmäßig durcheinandergerät. So wie an diesem Morgen, als sich ein Regionalexpreß 45 Minuten verspätete und ein anderer Zug ganz gestrichen wurde, weil das Seil einer Oberleitung riß. Immerhin hat sich die Pünktlichkeit seit Weihnachten erhöht. Denn in den Monaten nach dem Unfall von Eschede kam fast jeder zweite Zug zu spät in Hannover an – und jeder dieser Züge brachte übel gelaunte Passagiere.

Die Angestellte mit der roten Mütze sagt, sie würde die Kunden manchmal gern fragen, ob sie ihre Autos auch anschreien. Aber dazu läuft es meist zu schnell. „Da stand ein großer Mann und brüllte mich an“, erzählt sie. „Ich konnte mich nur noch umdrehen.“

Der Schaffner im Intercity verzieht das Gesicht mit den rosigen Wangen: „Wir sind ja soo unflexibel.“ Am Sonntag um 22 Uhr sei er neulich angerufen worden, ob er nicht um fünf Uhr früh eine Schicht übernehmen könne. Gewundert hat es ihn nicht, daß sonst keiner da war. Seit Jahren werde am Personal gespart, sagt der Bahner. Wenn erst nach dem Jahr 2000 der Besucheransturm auf die Expo in Hannover vorbei sei, würden die Leinen noch kürzer. „Es gibt schon Gerüchte, daß sie das Mitropa-System einführen wollen“, sagt der Mann, der wie seine Kollegin mit der roten Mütze nicht mit Namen in der Zeitung genannt werden will. Bisher müssen Schaffner höchstens einmal auswärts übernachten. Mitropa-System heißt vier Tage durch Deutschland fahren, ohne nach Hause zu kommen.

Obwohl der Schaffner schon seit zehn Jahren Karten knippst, gehört er nicht mehr zu der Schaffnergeneration, die Reisende auf dem Weg zur Toilette mit Wonne zum Platz zurückschicken, um die Bahncard zu holen. Er findet, Deutschland könne bei den Dienstleistungen viel von den USA lernen, was zwar ein wenig wie aus irgendeinem Verbrauchermagazin nachgeplappert klingt, aber konkret werden kann: Da ist die Nachlösegebühr, die er nur selten verlangt, obwohl er weiß, daß er dafür Ärger bekommen kann. „Wenn ich einkaufe und es gibt eine Schlange, bin ich auch sauer und will nicht noch extra zahlen.“ Er faßt sich an den Kopf: Wenn die Zugteams in drei Stunden dreimal wechseln, müßten sie nach der Vorschrift eigentlich den kompletten Zug jedesmal neu kontrollieren. Das reizt die Kunden, „da lassen sie den Dampf bei uns ab“. Inzwischen, berichtet der Schaffner, hätten sich einige Teams abgesprochen und ließen auch mal eine „Fahrgeldsicherung“ weg – entgegen den Vorgaben. Aber: „Wir stecken da in einem Spalt zwischen den Kunden und den Chefs.“

„Wir haben alles im Griff.“ Axel Arnds blickt zufrieden auf seinen Arbeitsplatz, als ob er ihn eben zum Geburtstag bekommen hätte. Der kugelrunde 41jährige mit dem roten Bart und den lustigen Augen sitzt vor einem Tisch, der aussieht wie die Kommandozentrale von Raumschiff Enterprise: Acht Monitore hat Arnds, auf denen er beobachten kann, wie zwei alte Damen am Ausgang der Mittelhalle tratschen und wie ein Glatzkopf beim Aufgang zum Gleis 12 einen Koffer aus dem Schließfach holt. Ein kleiner Bildschirm zeigt in grüner Schrift Besonderheiten zu ein- und ausfahrenden Zügen an. Bei Arnds in der neu eingerichteten 3-S-Zentrale („Sicherheit, Sauberkeit, Service“) laufen die Informationen zusammen. Für die Mitarbeiter an den Bahnsteigen fragt er beim Fahrdienstleiter an, warum ein Zug nicht kommt, sucht am Bildschirm eine andere Verbindung und gibt sie per Funk an die Kollegen vor Ort. „Steigerung der Kundenzufriedenheit durch verbesserte Information“, so hat der Vorstand der Bahn Arnds Aufgabe in einem Sofortprogramm namens „Fitneß ‘99“ genannt. Zwar will die Bahn dieses Jahr 18.000 weitere Stellen streichen, gleichzeitig aber 150 „Infomanager“ einstellen. Wenn schon Chaos, dann wenigstens nicht unbeaufsichtigt.

Arnds würde nie über die Bahn herziehen, obwohl er täglich ihren Zustand beobachtet. Seit 25 Jahren ist er Eisenbahner. Ein Pannenunternehmen? Er streicht über seine üppige Tastatur und sagt fast traurig: „Seit Eschede hatten wir ein bißchen Pech.“ Aber es werde auch viel kaputtgemacht von der Presse. „Wenn es schneit, kommt auch die Lufthansa zu spät.“ Auch durch die Sprüche der Bahnchefs über die eigenen Mitarbeiter läßt sich Arnds nicht provozieren – nur die Lachfältchen auf seinem runden Gesicht ziehen sich zusammen. Er wiederholt: „Wir haben das ganz gut im Griff.“

Der Fahrkartenverkauf in Hannover teilt sich in ein Reisezentrum und elf weitere Schalter rechts daneben, von denen die Verkäufer durch eine Scheibe in die Bahnhofshalle sehen. Die Plätze rechts sind die schlechteren. Das hat mit der Glasscheibe zu tun, die Kunden und Verkäufer aggressiver macht. „Wegen der Scheibe fühlen sich beide Seiten in Sicherheit“, erklärt Frank Sperling. Jeden Freitag erlebt er, daß „die“ wieder zu spät kommen. Geht es dann nicht vorwärts in der Schlange, verlieren die Reisenden die Nerven. „Dann ist der Bock fett.“

Sperling ist jetzt 39, als Jugendlicher kam er vor 24 Jahre zur Bahn, inzwischen trägt er den Titel „Leiter Reiseberatung“. Ein Rezept, wie die Schlangen wegzukriegen sind, hat er noch nicht gefunden. Immer wieder ist er zu dem Punkt gekommen, daß die Angebotspalette von Wochenend-, Regio- und Hopper-Tickets einfach zu groß ist. 15 Fragen muß Sperling manchmal stellen, um das günstigste Angebot herauszukriegen – die Kunden werden dabei immer ungeduldiger. Wie soll der Verkaufsleiter aber reagieren? Obwohl der Kartenverkauf zugenommen hat, wurden nicht mehr Verkäufer eingestellt. Jeder Mitarbeiter schiebt mindestens 30 Überstunden vor sich her. Kann sein, daß Sperling gern schimpfen würde. Er sagt aber nur: „So weit will ich mich nicht aus dem Fenster lehnen, daß das Personalmangel ist.“

Ein Kartenverkäufer hinter der Scheibe wird deutlicher. „Zur Expo kracht der Laden hier zusammen.“ Kurz einen Schalter aufmachen, wie der Bahn-Vorstand es vorschlägt? Er grinst und höhnt: „Wir sitzen in der ersten Reihe und kriegen's von vorn und von hinten.“

Die Gesandtschaft lädt zum Meeting im „Brunnenhof“. Er liegt nicht auf dem Gelände der Bahn und auch nicht im Hoheitsgebiet der Gewerkschaft, sondern quasi auf neutralem Boden. Es soll wohl schon gegen die Herren des Bahnkonzerns gehen, aber auch nicht um schnöde Gewerkschaftsforderungen. Rolf Marscholek, 1. Bevollmächtigter der Eisenbahnergewerkschaft GdED führt die Delegation von vier gestandenen Eisenbahnern an, allesamt Betriebsräte. Fast durchweg haben sie sich Krawatten um die kräftigen Hälse geschlungen und vorsorglich schon mal ein paar Kaffee oder Bier getrunken. Ihnen ist die Sache ernst.

Marscholek beginnt. Er spricht diplomatisch von „Unstimmigkeiten“, die es „nicht ganz einfach“ machten, ruhig zu bleiben“. Allmählich reden sich die Kollegen vom Betriebsrat warm. Sie berichten von 40 Siemens-Elektrotriebswagen, die seit Herbst letzten Jahres geliefert sein sollten, aber immer noch nicht da sind. Von den Nahverkehrswagen, an denen nur das Nötigste repariert werden kann, und von Loks, in die es reinregnet. Und über Prestigebahnhöfe sprechen sie, die „vielleicht 'ne halbe Nummer kleiner sein könnten, damit Geld für die Probleme vor Ort übrigbleibt“. Eigentlich ist es den fünf Männern nicht recht, ihre Eisenbahn schlecht zu reden. Deshalb schweifen sie gern zu den bösen Schwarzfahrern ab oder zur Unpünktlichkeit auf den Flughäfen. Aber dann schimpfen sie doch, wenn beispielsweise der Kollege Peter Lauer erzählt, wie schlecht es fürs eigene Ansehen im Bekanntenkreis ist, wenn die eigenen Chefs einen kritisieren. „Die sagen: ,Mein Lieber, du mußt ja ein fauler Hund sein.‘“ Ja, das ärgert sie, daß der Vorstand den Kunden „vollmundige Versprechungen“ macht, zugleich beim Personal kürzt und schließlich „schäbig und mies“ die Belegschaft kritisiert. Betriebsrat Rolf Schökels Kopf rötet sich: „Der Eisenbahner erwartet, daß er von seiner Führung gedeckt wird, wenn er sich den Hintern aufreißt!“

Reinhard Breitbart ist der Bahnhofsmanager. Er spricht lieber von den kleinen Erfolgen in Hannover als von großen Rückschlägen des Konzerns. Der 52jährige beschwert sich nicht über zuwenig Personal. Und an den Holzwänden, hinter denen für die Expo renoviert wird, hat er historische Fotographien anbringen lassen. Sie zeigen den im Krieg zerstörten Bahnhof und die wiederaufgebaute Mittelhalle aus den 50er Jahren. „Wir leben hier von der Perspektive“, erklärt Breitbart. Er weiß, wie es für seine Angestellten ist, am Bahnsteig zornige Reisende zu besänftigen. „Ich kann nur immer wieder sagen: ,Leute, laßt Euch nicht verrückt machen, es gibt auch positive Resonanz.‘“

Aus der Vorstandsetage des eigenen Unternehmens kommt die selten. Breitbart weiß das. Aber wie gesagt, er ist kein Nörgler. Der Vorstand sei ja nicht sein Bereich, er sei für Hannover zuständig. Eins will er doch anmerken. „Man sollte sich hüten, das Kreuz für seine Mitarbeiter nicht gerade zu machen.“

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