piwik no script img

Ein blutiger, aber allseits lukrativer Konflikt

■ In Frankreich ist eine der besten Untersuchungen des algerischen Bürgerkrieges erschienen

Kriege werden aus ökonomischen Interessen geführt, lautet eine alte – nicht nur marxistische – Weisheit. Daß sie selbst dort gilt, wo allein ideologische Motive die Ursache grausamster Konflikte zu sein scheinen, belegt das neueste Buch des französischen Maghreb- Spezialisten Luis Martinez, „La guerre civile en Algérie“ (Der Bürgerkrieg in Algerien).

In jahrelanger Kleinarbeit trug der Mitarbeiter des Internationalen Studien- und Forschungszentrums in Paris (CERI) Augenzeugenberichte aus Dörfern und Vororten rund um die Hauptstadt Algier zusammen. Sie alle liefern ihre Eindrücke aus einer Region, die wie keine zweite unter dem bewaffneten Konflikt zwischen Militärs und bewaffneten Islamisten leidet.

„Der Krieg ist für die Protagonisten ein wirksames Mittel, um Ressourcen und Prestige anzuhäufen. In diesem Sinne ist die Konsolidierung der Gewalt ein Ergebnis der Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg, den die Gewalt selbst erzeugt“, lautet die auf den ersten Blick überraschende Grundthese des so von Martinez gezeichneten feingliedrigen sozio-ökonomischen Bildes aus dem Alltag eines Landes, das mittlerweile über 120.000 Tote beweint.

Nach dem Abbruch der ersten freien Wahlen 1992 und dem Verbot der siegreichen Islamischen Heilsfront (FIS) zogen sich Polizei und Militär angesichts der zunehmenden bewaffneten Übergriffe aus vielen der „heißen Stadtteile und Dörfer“ zurück. Große Teile der örtlichen Unternehmer verließen in den kommenden Jahren ebenfalls die so geschaffenen „islamistischen Ghettos“. Sie stammten meist aus den Reihen der einstigen Befreiungsarmee, der ANL. Nach dem Abzug der französischen Kolonialherren hatte sie deren Privilegien und Aufgaben übernommen.

„Die Flucht der Militär-Unternehmer beschwört eine Desorganisierung des Stadtteils herauf.“ Es entsteht nicht nur ein macht- und sicherheitspolitisches, sondern auch ein ökonomisches Vakuum, das die Emire – die Chefs der spontan entstandenen bewaffneten Gruppen – schon bald ausfüllen sollten. Gegen Bezahlung bieten sie den Kleinhändlern Schutz vor Banditen. Was erst auf freiwilliger Basis stattfand, wird schnell zum System, wo, wer ausschert, dies mit dem Leben büßt. Die arbeitslos gewordenen Schmuggler reihen sich nach und nach bei den islamistischen Gruppen – den neuen Herren der Dörfer – ein. Nach der Liberalisierung der algerischen Wirtschaft ab 1994 sind es ihr Wissen und die durch Schutzgelderpressung angehäuften finanziellen Mittel, die es den Emiren „mit Hilfe von neugegründeten Import-Export-Gesellschaften möglich macht, in den Handel zu investieren“.

„Was vor fünf Jahren undenkbar war, ist eingetreten: Der soziale Aufstieg dank des Dschihad und der Liberalisierung des Handels eröffnen für einige Emire einen äußerst lukrativen Ausweg aus dem Krieg.“

Der Armee gelingt es, die so geschaffenen islamistischen Ghettos weitgehend zu isolieren und somit die für das Überleben des Regimes notwendige Infrastruktur, wie die Erdöl- und Erdgasproduktion und die wenigen funktionierenden Großbetriebe, zu schützen. Genau hier kaufen sich die Mächtigen aus dem Militärapparat im Zuge der vom Internationalen Währungsfond (IWF) diktierten Privatisierung ein. Proteste gegen Massenentlassungen bleiben weitgehend aus.

Statt der großen Industriekomplexe werden kleine, meist marode Staatsunternehmen zum Hauptziel der Anschläge der bewaffneten Gruppen. In vielen Gegenden bricht die Versorgung der staatlichen Märkte vollständig zusammen. Die Preise steigen. „Der private Sektor expandiert wie noch nie.“

„Die Attentate, die den Staat schwächen sollen, führen zu einer Neuverteilung der ehemaligen Staatsmonopole zugunsten des privaten Sektors.“ Gewinner sind dabei diejenigen, die Geld und Einfluß genug haben, um private Unternehmen aufzubauen oder in den Groß- und Einzelhandel einzusteigen: die Dorfhonoratioren, die Militär-Unternehmer und hohe Beamte aus dem Staatsapparat. „Die lokalen Emire erleichtern so unfreiwillig die Umsetzung des vom IWF diktierten Strukturanpassungsplanes.“ Die bewaffneten Gruppen profitieren auf ihre Art von der Entwicklung, denn die neuen Privatunternehmen zahlen, anders als die Staatsbetriebe, Schutzgeld.

Das Opfer der so entstandenen wirtschaftlichen Dynamik ist die Bevölkerung. In der zunehmenden Unzufriedenheit der Betroffenen über die bewaffneten Gruppen und deren Wandel „von spontanen Selbstverteidigungsstrukturen“ gegen den staatlichen Repressionsapparat hin zu „islamistischen Unternehmen zweifelhafter Individuen“ liegt eine der vielen Erklärung für die grausamen Massaker.

„Wenn der Krieg für ,die unten‘ eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs bietet, so ist er für ,die oben‘ eine Epoche, in der sie ihre Privilegien sichern und ihren Reichtum vergrößern“, schlußfolgert Martinez. Der Krieg wird so zur „Lebensgewohnheit“. Reiner Wandler

Luis Martinez: „La guerre civile en Algérie“, Centre d'Études et de Recherches Internationales. Editions Karthala, Paris 1998, 429 Seiten, 160 FF.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen