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Der beschallte Mensch

Stoischer Herausforderer und störrischer Gönner: Philip Tiedemann punktet in Wien gegen Claus Peymann und dessen Konkurrenzteufelchen. Er inszeniert Handkes „Kaspar“ als streng strukturierte Klangwelt – eine Sprachoper mit Licht-Kontrapunkten  ■ Von Cornelia Niedermeier

Claus Peymann, der ewige Junge, hat ein kleines Problem mit der Jugend. Claus Peymann, der ewige Revoluzzer, hat ein Problem mit der Revolution. Und Claus Peymann, der Regisseur, hat gewisse Probleme mit junger, eigenwilliger Konkurrenz. 13 lange Burgtheaterjahre hindurch betrieb der Regisseur als Intendant folglich eine Nachwuchspflege, die sich als eigentliche Nachwuchsbehinderung lesen läßt. Regelmäßige Zusammenarbeit mit interessanten jungen Regisseuren (unter 60) existierte an der Burg nicht. Die „Jugend“ war im wesentlichen durch den frühgreisen Konservativismus Matthias Hartmanns abgedeckt.

Nun aber steht der Umzug nach Berlin ins Haus, und Peymann blickt um sich. Und siehe, er findet das Umfeld verödet. Da – o Wunder – entdeckt er ein Talent in den sinistren Fluren seines Hauses: seinen Regieassistenten Philip Tiedemann, den er prompt als künftigen Hausregisseur ans Berliner Ensemble verpflichtet. In der Zwischenzeit aber darf er in Wien inszenieren. Und was Peymann da für seinen Schützling aussucht, ist eine Auswahl der besonderen Art: etwa Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“, die er, Peymann, einst zur umtosten Uraufführung brachte. Oder: Thomas Bernhards Dramolette über Claus Peymann himself, das den schönen Titel trägt „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“. Diese Inszenierung ist auch zum Berliner Theatertreffen im Mai eingeladen.

Neuester Streich: Handkes „Kaspar“, just im sagenhaften Mai 1968, just in Frankfurt von keinem anderen als Peymann selbst uraufgeführt. Mittlerweile eine legendäre Inszenierung, naturgemäß. Ein kleines, hartnäckiges Konkurrenzteufelchen muß ihm diese bemerkenswerte Stückwahl geflüstert haben. Philip Tiedemann wiederum nimmt die Herausforderungen seines störrischen Gönners mit stoischer Ruhe an – und punktet von Mal zu Mal durch seine erstaunlich präzise Formsprache. Zumal „Kaspar“ läßt nun ahnen, daß sich hinter der scheinbaren Konventionalität seiner Inszenierungen womöglich ein äußerst eigenwilliger Theaterkopf verbirgt.

Für „Kaspar“ plazierte Tiedemann das Publikum auf steilansteigenden Metalltribünen, die von drei Seiten auf ein Bühnengeviert von zirka zwei mal zwei Meter hinunterstarren wie die Hörsaalränge eines frühneuzeitlichen „Theatrum anatomicum“. Im Mittelpunkt der Mensch – das Untersuchungsobjekt. Das Thema des Abends – die (Ver)bildung des mündigen Menschen durch Sprache, historisch eingebettet als Frage der Neuzeit, Dialektik der Aufklärung.

Handkes „Kaspar“, den anfangs Sprachlosen, formt die technische Sprachbeschallung unsichtbarer „Einsager“ zum genormten Menschen. Tiedemann interessiert allerdings weniger der didaktische, sprachphilosophische Aspekt des Textes, als vielmehr dessen formale, sprachkünstlerische Brillanz. Er komponiert den Abend von der ersten zur letzten Sekunde zu einer minimalistischen, streng strukturierten Sprachoper. Vier Gestalten stehen im Rücken der Zuschauer auf den höchsten Punkten des „Theatrum anatomicum“, die Texte skandieren und mit Scheinwerfern hinleuchten auf das zweibeinige Wesen, das dort unten einen ersten zaghaften Finger aus dem Bodengitter reckt. Eineinhalb Stunden bewegt sich Johannes Krisch über das winzige Quadrat. Sein expressives Gesicht, das an Klaus Kinskis Woyzeck erinnert, und sein in permanenter Höchstspannung gehaltener Körper, bilden im Scheinwerferlicht den optischen Kontrapunkt der Klangwelt.

Tiedemanns „Kaspar“ erzählt – mit Hilfe eines Ausnahme-Schauspielers wie Krisch – weniger durch den Text als durch die Bündelung aller theatralischen Mittel. Seine Sprachreflexion gilt der Grammatik des Theaters, durch deren Konzentration er das Publikum für jede minimale Veränderung sensibilisert. Seine Inszenierung präsentiert sich als Gesamtkomposition, die am ehesten noch mit der minimalistischen Musik Steve Reichs zu vergleichen ist, verblüffend in ihrer Ausgereiftheit. Man mag Tiedemann vorwerfen, die Vermittlung von Inhalten, von Geschichten sei für ihn von sekundärer Bedeutung. Doch seiner theatralischen Komposition glückt – aufgrund ihrer formalen Präzision – die Entwicklung einer musikalischen Eigensprache als gültige Aussage. Ein äußerst spannender Ansatz deutet sich in dieser Inszenierung an. Ob es Philip Tiedemann gelingt, diese antirealistische Spur weiterzuentwickeln, wird die Zukunft zeigen, und die liegt in Berlin. Und wer weiß – vielleicht findet Claus Peymann zu guter Letzt sogar Gefallen an der Rolle des Entdeckers.

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