Eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft

Derzeit erlebt Nigeria die schwerste ökonomische und soziale Krise seit Menschengedenken. Von den freien Wahlen, die dem Land eine Demokratisierung bringen sollen, erhoffen sich die meisten Menschen daher nur wenig  ■ Aus Lagos Dominic Johnson

Sie stehen mit Argusaugen an der Bordkante, schemenhaft und zum Sprung bereit, sollte einer der vorbeibrausenden Autofahrer auf der nachtschwarzen Straße anhalten und nach dem Preis fragen. Es ist wohl auch logisch, daß sich dieses Rotlichtmilieu direkt vor dem militärischen Sperrgebiet etabliert hat, wo Schiffe von Nigerias Marine auf Anker liegen. Aber gehandelt wird hier nicht mit Sex, sondern mit einem Gut, das in Nigeria heute mindestens ebensolche Begierden erweckt: Benzin.

800 Naira, umgerechnet 16 Mark, zahlt Nduka Otiono an diesem Abend fluchend für seinen Vierliterkanister. Und doch erscheint dieser Preis dem Dichter so günstig, daß er gleich zwei davon kauft – von verschiedenen Anbietern, die sich mit Plastikbehältern gerüstet um die Kunden schlagen. Noch nie war die chronische Benzinkrise in der Sechsmillionen- stadt Lagos so schlimm wie vergangene Woche. Ein Streik der Tanklastwagenfahrer lähmte die Metropole wenige Tage vor Beginn der Wahlen, die das Land zur Demokratie führen sollen. Benzin für Autos, Diesel für Stromgeneratoren, Kerosin für den Haushalt – eine Zeitlang war alles entweder unauffindbar oder sündhaft teuer.

Da erstarrte sogar der brodelnde Moloch Lagos. Die sonst immer verstopften Hauptstraßen wurden angenehm leer, Nigerias größte Stadt zerfiel in seine Dörfer und versank in Melancholie. Wer seine Angestellten in dieser Zeit bei der Stange halten will, muß etwas dafür tun. Eine Bank liefert ihren höheren Mitarbeitern jetzt jede Woche 25 Liter Benzin, jedes zweite Mal kostenlos, damit sie zur Arbeit kommen.

Der Anlaß des Tanklastwagenfahrerstreiks war vergleichsweise banal. Weil im Frachtguthafen von Apapa im Westen von Lagos ein Viehtreiber aus Versehen mit seinem Gefährt den Seitenspiegel eines Tanklastwagens abknickte, brach ein alter Landstreit zwischen Ölarbeitern und Viehhändlern wieder auf. Dutzende von Menschen wurden in regelrechten Straßenschlachten verletzt, Dutzende von Tanklastern gingen in Flammen auf. Die erboste Ölarbeitergewerkschaft rief zum Streik auf, solange die Viehtreiber ihre Tiere weiter auf diesem Gebiet verkauften, anstatt gemäß eines sechs Jahre alten Abkommens in einen modernen Schlachthof am Rande der Stadt umzuziehen.

Weil der Ölproduzent Nigeria aufgrund des Verfalls seiner Raffinerien sein Benzin importieren muß, sind die Tanklastwagenfahrer sehr mächtig. Die Gewerkschaft setzte sich durch, die Viehtreiber werden seit kurzem am Stadtrand vom Militär umgeleitet. Aber die Benzinmafia beeilte sich überhaupt nicht, nach dem versprochenen Ende des Konflikts Mitte letzter Woche die Preise wieder auf das normale Niveau von 20 Naira pro Liter (40 Pfennig) herunterzuschrauben. „Unter Abubakar trauen sich die Leute eben mehr“, erklärt Nduka Otiono achselzuckend die neue Lust am Schröpfen in der Zeit der Demokratisierung.

Man traut sich mehr in Nigeria, aber man hat nicht unbedingt mehr davon. Immer wieder streiken Beamte und Ärzte für mehr Lohn, während die staatliche Infrastruktur immer weiter zerfällt. Noch nie war in Lagos Benzin so kostbar, waren Strom und Wasser so rar, noch nie war das Telefonnetz so marode und die Erledigung der einfachsten Dinge so aufreibend. Nach wenigen Tagen Benzinstreik begannen erboste Pendler im Norden von Lagos wegen der unbezahlbaren Preise Busse anzuzünden. Mehrere Menschen starben. Nigerias soziale Krise äußert sich in einer Kettenreaktion von Ausbrüchen der Verzweiflung.

„Jeder kann heute die Gesellschaft als Geisel nehmen, um sich durchzusetzen“, schimpft Jahman Anikulapo, einer der führenden Kulturjournalisten des Landes. „Es gibt einen generellen sozialen Zusammenbruch“, konstatiert Rev. Paul Oye, Pfarrer von St. Dominic's im Stadtteil Yaba, nach eigenen Angaben die größte katholische Gemeindekirche Nigerias. „Das Leben wird jedes Jahr schlechter“, seufzt Frau Ewo, eine freundlich grinsende ältere Lehrerin mit Kopftuch, Zahnlücke und Rohrstock, während sie ihre Schüler aus Paul Oyes Kirche zurück ins Klassenzimmer treibt.

Ob sich das jetzt mit den Wahlen ändert? „Wir beten zu Gott, daß er uns gottesfürchtige Männer schickt“, sagt Frau Ewo. Daß bei den Wahlen das Volk wählt und nicht Gott, registriert sie nicht. Der weltgewandte Jungpfarrer Oye staunt über den Präsidentschaftswahlkampf zwischen Olusegun Obasanjo und Olu Falae, die beide aus dem Yoruba-Volk im Südwesten Nigerias stammen: „Zwei große Führer, die mit einer Stimme sprechen sollten, bekämpfen sich und könnten sich gegenseitig zerstören!“

Frau Ewos Oberschule in Yaba ist wie die meisten nigerianischen Oberschulen eine Ansammlung von maroden Betonklötzen um einen staubigen Schulhof, wo jetzt die Jungs in blauen Hemden und Shorts in Reih und Glied stehen und angebrüllt werden, weil sie unterwegs getrödelt haben. „Ihr seid doch gerade in der Kirche gewesen!“ zetert eine resolute Junglehrerin. „Was fällt euch ein, euch so zu benehmen!“ Alles dreht sich um Disziplin – äußere und innere. Der Geist des Militärs ist allgegenwärtig. Auf die Bitte um ein Gespräch antwortet die Rektorin mit der vorwurfsvollen Feststellung, zum Fragenstellen brauche man eine Sondergenehmigung.

Die Kinder haben ihre Erwartungen schon heruntergeschraubt. Der 13jährige Emeka geht gerne zur Schule, „weil ich da lesen und schreiben lerne und wie ich ein guter Junge werde“. Ein bißchen wenig für eine Oberschule. Aber sogar Emeka ist offenbar inzwischen in der Minderheit. In der nahen All-Saints-Grundschule gibt es dieses Jahr 291 Schüler. „Vor fünf oder sechs Jahren waren es noch 600 oder 700“, erinnert sich Rektorin J. A. Ogundeyi in ihrem winzigen Büro, wo sie gerade ein Elternpaar ausgeschimpft hat, das seinen Sohn die Schule schwänzen läßt. Wo bleiben die anderen Kinder? Jeder weiß es: Sie bleiben zu Hause. Sie arbeiten als Straßenhändler und Gelegenheitsverdiener. Manche werden Haussklaven oder Prostituierte.

Eine Generation von Kindern ohne Bildung wächst in Nigeria auf, und die soziale Kluft vertieft sich. Denn eine winzige privilegierte Schicht von Eltern schickt ihre Sprößlinge natürlich nicht auf die staatlichen Anstalten, sondern auf Privatschulen, „wo“, mokiert sich Frau Ogundeyi, „man nichts anderes lernt als hier, aber Geld bezahlt und soziale Aktivitäten nach Unterrichtsschluß angeboten werden. Da kriegen die Kinder die richtigen Connections.“

All Saints kann nichts anbieten. Das Lehrmaterial müssen die Eltern selbst kaufen. Alle Schulausgaben außer den Personalkosten, die direkt vom Staat beglichen werden, muß Frau Ogundeyi aus den Schulgeldern finanzieren. Ein Jahr Grundschule kostet 200 Naira (vier Mark) — das zahlt man inzwischen manchmal für den Liter Benzin. Im Jahr kommen da für Inventar und Erhalt der Gebäude 1.200 Mark zusammen. „Wir kommen gerade so klar“, behauptet die Rektorin, aus deren Bürofenster man die Kinder auf einem staubigen Hof tollen sieht, umgeben von einfachen Schuppen, deren einziger Inhalt aus winzigen alten Holztischen und Bänken besteht.

Die Politiker, allen voran die Präsidentschaftskandidaten Obasanjo und Falae, versprechen nun die Abschaffung der Schulgelder, um den Unterricht attraktiver zu machen. Wie das aufgehen soll, bleibt ihr Geheimnis. Nigerias Staat hat nämlich kein Geld mehr. Was einmal da war, haben die herrschenden Militärs und ihre Freunde gestohlen. Und jetzt ist der Preis des Öls, von dessen Export Nigeria wirtschaftlich abhängig ist, so tief gefallen, daß die Staatseinnahmen kaum noch die laufenden Kosten decken.

Das heißt: Eine neue gewählte Regierung muß sparen, anstatt Erwartungen zu erfüllen. Alles läuft daher auf eine weitere Privatisierung hinaus, auch im Bildungssektor. Unter anderem will der neugewählte Gouverneur von Lagos, der einstige Exiloppositionelle Ahmed Bola Tinubu, die 1975 allesamt verstaatlichten Schulen zurückgeben. Damals waren die kirchlichen Schulen – in Nigeria immer das Rückgrat des Bildungswesens – vom Militär abgeschafft worden.

Aber daß nach den Wahlen erst mal alles noch schlechter werden wird, trauen sich die Politiker nicht zu sagen. Die voraussichtliche Wahlgewinnerin, General Obasanjos „People's Democratic Party“ (PDP), knüpft lieber an die glorreichen späten 70er Jahre an, als Obasanjo bereits Präsident war und die Ölgelder kräftig sprudelten. Damals war Medizin kostenlos und in den Schulen konnte man etwas lernen, verklärt PDP-Parlamentskandidatin Prinzessin Adenrele Adeniran Ogunsaya: „Wir wissen, daß diese Zeiten vorbei sind, aber wir beten, daß wir etwas von dem Geist dieser Zeiten einfangen!“

Nur einige Dutzend meist sehr junge Zuhörer, verloren in einer schattigen Ecke eines großen Schulhofs, hören der Prinzessin bei ihrer Wahlkampfrede zu. Die Wahlen erregen in Lagos äußerst geringes Interesse. „Viele meiner Freunde“, weiß der Dichter Nduka Otiono, „haben sich nicht einmal bemüht, sich als Wähler registrieren zu lassen.“

Als Otiono nach dem nächtlichen Benzinkauf seinen Wagen wieder auf die Straße lenkt, verfehlt er haarscharf ein vorbeirasendes Motorrad mit zwei Soldaten darauf. Die beiden schlaksigen Rekruten halten wenige Meter vorneweg an und steigen ab. Mit finsterem Gesicht stolzieren sie auf das Auto zu und brüllen. Immer wieder dreht sich einer weg und geht zwei Schritte zum Motorrad zurück, um dann mit einer neuen Tirade auf den Lippen wieder zurückzuspringen. Ob man denn nicht aufpassen könne! Ob man denn nicht wisse, mit wem man es zu tun habe! Und überhaupt: Wieso denn immer ausgerechnet Leute in Uniform so respektlos behandelt würden! Wie man denn darauf komme, daß eine einfache Entschuldigung jetzt ausreicht!

„So ist das hier“, seufzt der Dichter, nachdem die beiden von ihrem Opfer abgelassen haben. „Man steckt sie in Uniform, und sie denken, sie sind die Herren.“