Die Fratze von Berlin/überall

■ Der Fotograf Michael Schmidt streift seit nunmehr 35 Jahren mit seinen zahlreichen Kameras als „mitleidender Beobachter“ durch die deutsche Hauptstadt. Jetzt ist eine Retrospektive mitten in der Bremer Kunsthalle zu sehen

Im Neuen Museum Weserburg hält der französische Fotograf Patrick Faigenbaum Bremen seit einigen Wochen einen Spiegel vor. Jetzt haben diese Bilder, die das unwirtliche und zugleich austauschbare Gesicht der Stadt ziemlich schonungslos offenbaren, in der Kunsthalle Gesellschaft bekommen. An prominenter Stelle, nämlich in der neuen Halle gleich hinter dem Eingangsbereich, zeigt der 1945 in Berlin geborene und als so kritisch wie selbstkritisch geltende Fotograf Michael Schmidt Bilder, die seine strenge Zensur passiert haben.

Da verrottet das Schild „You are leaving the american Sector“ auf einem Triptychon vor sich hin. Im Ensemble „Waffenruhe“ trotzt eine Punkerin der Stadt, die nach Klaus Hoffmann so viele Mauern hat(te), ein Stück Leben ab. Und in der Serie „Berlin nach 1945“ wird die Brandwand zum eigentlichen Kennzeichen dieser Stadt. Es sind Berlin-Bilder, es sind keine Berlin-Bilder, die Michael Schmidt in den letzten 35 Jahren geschaffen und an seinen Sammlerfreund Bernd F. Künne verkauft hat. Und diesen Widerspruch halten diese Fotografien ohne Mühe aus.

So etwas wie eine Retrospektive ist in Künnes Sammlung im Lauf der Jahre zusammengekommen, und sie zeigt, wie sich der auf Schwarz-Weiß-Fotografie beschränkende Schmidt weiterentwickelt hat. Da sind die teils inszenierten Momentaufnahmen der 60er Jahre. In den 70ern folgen Portraits. Erst sind es Nahaufnahmen. Dann erarbeitet Schmidt auch in sorgfältig ausgeleuchteten Wohn- und Arbeitsräumen an seinen Portraits, die wie bei Faigenbaum in einer quälenden Prozedur für die fotografierten Menschen entstanden sein müssen. Die Panorama-Blicke der Serie „Berlin nach 1945“ werden später durch die Konzentration auf Details, wie Schriftspuren und Wandstrukturen, ersetzt. Doch trotz dieser Entwicklung ziehen sich die Ambivalenzen zwischen künstlerischem und dokumentarischem Blick, zwischen geographischer Verortung der Motive und von Berlin losgelöster Allgemeingültigkeit durch. Und es sind vielleicht diese Ambivalenzen, die den Reiz und die Kraft dieser Fotografien ausmachen.

„Fotografie ist eine Bastardkunst“, beschreibt Michael Schmidt in seinem recht ruppig wirkenden Berliner Dialekt sein eigenes Metier. Er zielt damit auf die alten Vergleiche von Fotografie und Malerei und glaubt: „Methodisch kommt man mit Fotografie nicht an die Malerei heran – es fehlt ihr einfach das Haptische.“ Obwohl er sich mit der Serie „Waffenruhe“ ganz nah an die Malerei herangewagt und danach überlegt hat, mit dem Fotografieren aufzuhören, sind seine Arbeiten doch völlig eigenständig. Diese Bilder sind zwar immer auch als abstrakte Kompositionen lesbar, doch ihre Motive sind vorgefunden, real. „Das Faktische akzeptieren“, lautet Schmidts Credo. Und im kleinen Katalog spricht er in dritter Person über seine Arbeit: „Der Künstler Michael Schmidt versteht seine Arbeit in einer Mischung aus moralischer Intensität, mitleidender Beobachtung und deutender Trauerarbeit.“ Er findet und richtet sich gegen die von Mitscherlich beschriebene „Unwirtlichkeit der Städte“ und schafft Stadtportraits. Was in Berlin fotografiert wurde, wird auch in New York verstanden.

Der Berliner Schmidt ist übrigens Berlin-müde geworden. Für sein nächstes Projekt hat er Hannover als Schauplatz seiner standortunabhängigen Stadtportraits ausgesucht. Einem Sprichwort nach soll Hannover auch nette Ecken haben. Es wäre eine völlige Kehrtwendung in seiner Arbeit, wenn Schmidt ausgerechnet sie finden würde. ck

Ausstellungsdauer: bis 25. April; der Ausstellungskatalog kostet 20 Mark