„Die Toten nie vergessen“

Etwa 10.000 Kurden versammelten sich gestern in Berlin zu einem friedlichen Trauermarsch. Die Leichen der drei Erschossenen wurden an der Spitze des Zuges transportiert  ■ Von Annette Rollmann

Es ist die pure Empörung, die an diesem Mittwoch ihren Ausdruck findet. Genau eine Woche nach den tödlichen Schüßen auf drei Kurden im israelischen Generalkonsulat in Berlin, haben sich rund 10.000 Kurden auf dem Kreuzberger Blücherplatz versammelt. Sie wollen ihrer Toten gedenken und gegen die Inhaftierung des PKK-Chefs Abdullah Öcalans demonstieren. Erregt und beide Arme in die Luft gereckt, skandieren sie: „Terror für die Türkei, Terror für Israel“ und dann wieder: „Wir sind PKK, wir sind Öcalan.“

Kurdische Einheizer mit Megaphon geben die Slogans vor, und die Menschen wiederholen die Sätze mit so großem Nachdruck, als wollten sie damit ihr schon lange empfundes Unrecht der Welt, den Deutschen und den Türken noch einmal verzweifelt entgegen schreien: Hört uns endlich!

„Der türkische Staat ist an allem schuld“, sagt ein Mann. An seiner roten Binde erkennt man, daß er einer von vielen ist, die den Trauermarsch koordinieren. Andere halten Transparente hoch, tragen Blumen, und fassen sich immer wieder an den Händen, bilden lange Ketten, Frauen und Männer streng getrennt voneinander. Dann skandieren sie auf kurdisch: „Die Toten werden wir nie vergessen“, um plötzlich, nach einem kurzen Moment der Stille, in diesem angespannten Lärmkanon ein Liebeslied anzustimmen. Es ist ein schönes Lied, eine Weise aus ihrer Heimat.

Dazwischen trällern Frauen klagend mit ihren Zungen. Viele von ihnen haben die kurdische Tracht an, fast folkloristisch anmutende Oberteile mit langen hellen Röcken und bunten Tücher an den goldenen Plättchen hängen. „Wir wollen ein freies Kurdistan“, sagt eine von ihnen, nachdem sie sich erst versichert hat, daß keiner bemerkt, daß sie mit der Presse spricht.

Inzwischen hat eisiges Schneetreiben eingesetzt, auf die Häupter der Trauernden fällt die weiße Pracht. Doch der Moment der Melancholie weicht schnell wieder, wird abgelöst durch die skandierenden Parolen, auf die die Demonstranten schon seit Tagen in ihren Zeitungen vorbereitet worden sind. Einen Tag vor der Demo hatte die PKK-nahe Zeitung „Özgur Politika“ geschrieben: „Haß muß organisiert werden“, oder „Verbrennt euch nicht, verbrennt den Feind“.

Es ist aber nicht allein die Wut, die die Menschen bestimmt. Vor allem Mißtrauen ist deutlich zu spüren: „Nein, wir dürfen nicht reden“, sagen die Leute im Trauerzug immer wieder und wenden sich verlegen ab. Wie sie es finden, daß Sie nicht reden dürfen? Die Antwort: „Dazu sagen wir nichts.“

Der Presse ist es nur erlaubt mit streng ausgesuchten kurdischen Vertretern zu sprechen. Das Redeverbot, das offensichtlich von der PKK verhängt worden ist, greift. Selbst die Frage nach dem kurdischen Schal in den Farben rot, gelb und grün, den sich eine ältere Frau um den Hals gebunden hat, wird nicht beantwortet.

Dann will eine Aktivistin, die Flugblätter der PKK verteilt, aber doch sprechen: „Wir wollen einen kurdischen Staat. Wir wollen, daß Öcalan vor den Europäischen Gerichtshof kommt,“ fängt sie an, um dann von ihren eigenen Leuten beschimpft zu werden. Sie wehrt sich. Das Abschneiden der Kommunikation sei nicht richtig, hatte sie noch kurz vorher gesagt. „Das dient nicht der kurdischen Sache.“ Doch ihre Landsleute sind anderer Meinung: „Die Presse schreibt sowieso, was sie will und immer falsch“, schreit einer agressiv. Ein anderer entschuldigt sich, will aber auch nichts sagen.

Unterdessen haben sich an die Spitze des Trauerzuges zwei graue Wägen mit den drei Leichen der Erschossenen gesetzt. Langsam fahren die Fahrer des Nürnberger Bestattungsinstituts vor den Menscher her, durch kurdische Vertreter streng abgeriegelt vom Trauerzug selbst. Dahinter tragen Frauen und Männer Bilder der Verstorbenen und halten sie in die Höhe. Wenig erinnert hier an eine Beerdigung.

Ruhe und Besinnlichkeit kehren auf dem rund drei Kilometer langen Weg zum Veranstaltungszentrum Urania im benachbarten Stadtteil Schöneberg nur selten ein. Wägen mit Kurden, die politische Forderungen verlesen, sind in den Zug eingereiht und verbreiten über große Lautsprecherboxen auf kurdisch und zwischendurch auch auf deutsch die politischen Forderungen der Kurden nach einem autonomen Staat.

Eine Frau im Trauermarsch schiebt einen Kinderwagen, ihr zweites Kind zerrt sie an der Hand mit sich. Nein, sie habe keine Angst um ihre Kinder. „Meine Kinder sollen aufwachsen, wie Apo. Sie sind nichts Besseres und man muß sie nicht besser schützen“, sagt die Mutter mit entschiedenen Worten und geht weiter ihren Weg. Am Rad des Trauermarsches haben sich einige Deutsche eingefunden. Sie sind „betroffen über das Unrecht, das den Kurden widerfährt.“

Die Polizei, die an diesem Tag aus fast ganz Deutschland angerückt ist, begleitet den Zug an der Spitze und am Ende. Wie eine Sprecherin sagte, hätten die Kurden das gewünscht, da sie Angst vor randalierenden Türken gehabt hätten. Die seien, so berichtet wenig später Kader Alyousef von der Kurdischen Gemeinde zu Berlin, zu Beginn der Woche in Autocorsos durch Kreuzberg gefahren und hätten immer wieder gerufen: „Wir haben gesiegt.“

Doch halten sich diese türkischen Gruppen, bis auf einen Zwischenfall, bei dem Steine aus einem von Türken bewohnten Haus geworfen wurden, am Tag der kurdischen Trauer zurück. Polizei und Bundesgrenzschutz, die mit 3.500 Mann in Einsatzkleidung und teilweise sogar mit schußsicheren Westen angerückt ist, nehmen bei Personenkontrollen vorläufig 44 Leute fest. Dennoch bleibt die Demo friedlich. Die Polizei hatte präventiv schon seit dem Morgen an der nah gelegenen U-Bahnhaltestelle bei vor allem kurdisch und türkisch aussehenden Männern Leibesvisitationen vorgenommen und Taschen durchsucht.

Unterdessen laufen die Menschen immer weiter ihrem Ziel in Schöneberg entgegen. Dort versammeln sie sich schließlich vor der Urania, wo die Särge aus den Wägen geholt und auf Tischen aufgebahrt werden. Die Menschen defilieren an den Särgen der Toten vorbei und werfen rote Nelken zum Abschied. Jetzt, erst am Ende der Demonstration, bricht sich die Trauer ihre Bahn. Die Frauen weinen und die Politik tritt, so scheint es für einen kurzen Moment, in den Hintergrund. Doch das Andenken der Toten, das sie der Welt vermacht haben, ist der Kampf für die kurdische Sache: Und das vergessen die Trauernden nicht. „Sehit Nawirin“ skandieren die Männer und Frauen kurz vor Auflösung der Veranstaltung um fünf Uhr am Nachmittag immer wieder. Es ist ihre Botschaft, die heißt: „Die Märtyrer sterben nicht.“