: Soldaten spielen Parlament
Um ein Akustikdebakel wie 1992 in Bonn zu vermeiden, probten gestern 1.000 Bundeswehrangehörige unter Ausschluß der Öffentlichkeit Klatschen und Buhrufe im Reichstag. ■ Von Annette Rollmann
Eigentlich ist es Soldaten der Bundeswehr sonst streng verboten, gestern hingegen durften sie einmal aus der Rolle fallen: Sie konnten sich lautstark empören oder dazwischen rufen, es war ihnen erlaubt zu murmeln, zu klatschen oder gar mit den Füßen Beifall zu trampeln. 1.000 Rekruten aus Berlin und Brandenburg simulierten im Reichstag, dem künftigen Deutschen Bundestag, eine Parlamentsdebatte, um die Akustik zu proben.
Aus diesem Grund hatten die Soldaten gestern den Befehl, sich auch wie richtige Volksvertreter zu verhalten und ihre Meinung zum besten zu geben: Durch Zwischenfragen, durch Zurufe und ungeplantes Rufen. Die Soldaten, die nicht nur im eigentlichen Plenarsaal, sondern auch auf der Regierungsbank und auf den Tribünen des Diplomatischen Korps, der Besucher und der Presse teilgenommen hatten, vollzogen die Akustikprobe in dem Saal mit dem großzügigen Raumvolumen von 29.000 Kubikmeter — allerdings unter strengem Ausschluß der Öffentlichkeit.
Eine erneute Blamage, wie kurz nach der Einweihung des neuen Plenarsaals in Bonn im November 1992 wollte die Bundesbauverwaltung offenbar vermeiden: Damals war während der Haushaltsdebatte die computergesteuerte Lautsprecher- und Mikrofonanlage ausgefallen. Selbst leichte Schläge des damaligen Bundeskanzlers gegen ein Mikrofon konnten da nicht helfen: „Eins, zwei, drei, hört ihr mich?“ Nein. Helmut Kohl blieb unverstanden. Die Stenographen registrierten „sich ausbreitende Unruhe“ im Plenum. Das peinliche Desaster hatte sich zudem nicht einmal schnell beheben lassen. Erst nach der Sommerpause 1993 konnten sich die Abgeordneten wieder hören.
Die Bundeswehr, die von der Bundesbauverwaltung zu dem gestrigen Test im Reichstag gebeten worden war, verband den Ausflug der Panzerbrigade 42 aus Potsdam und des Jägerbataillons 1 aus Berlin mit einem Tag der politischen Bildung: So hielt der Leiter der Baukommission des Deutschen Bundestages, Dietmar Kansy, einen Vortrag zum Umzug des Bundestages vom Rhein an die Spree. Frank Firmeisen, Projektleiter Reichstag der Bundesbaugesellschaft sprach zum Umbau des Reichstages. Danach gingen die Akustikplaner vom Architekturbüro Sir Norman Forster ans Werk. Unter bisweilen strenger Regie mußten die Soldaten die neue Anlage proben. Ob die Technik wirklich so gut funktioniert, wie es gestern die Bundesbaugesellschaft behauptete, wird sich erst in einigen Wochen zeigen. Der riesige Datenberg an Zahlenmaterial muß erst einmal ausgewertet werden. Fällt das Ergebnis nicht so aus wie erwartet, hat die Bundesbauverwaltung nicht mehr viel Zeit. Die parlamentarische Premiere im umgebauten Reichstag soll schon am 19. April über die Bühne gehen. An diesem Tag soll dort die erste Parlamentsdebatte stattfinden.
Doch gestern konnten die Männer in Uniform erst einmal Demokratie proben und den historischen Bau nach seinem 600 Millionen Mark teuren Umbau besichtigen. Denn exklusiv für die Soldaten hatte es die Bundesbauverwaltung ermöglicht, daß die Rekruten auch die viel diskutierte gläserne Kuppel auf dem Dach aus nächster Nähe bestaunen konnten. Doch das Schönste war offenbar ein herziges Erinnerungsbild fürs heimische Fotoalbum. Die Soldaten, die vor allem aus Ostdeutschland stammen, fotografierten sich gegenseitig im neuen Plenarsaal. Ein kleiner Ausflug in die Mitte der Demokratie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen