: Struktur und Interpretation
■ Claudia Willkes Dokumentarfilm über die beeindruckende Arbeit des japanischen Schauspielers und Regisseurs Yoshi Oida
Eine Szene japanischer Theaterarbeit: Zwei Männer vollführen abwechselnd die gleichen Handlungen, sprechen die gleichen Worte, der zweite als präzise Kopie des ersten. „Mein Nô-Lehrer sagte mir“, erklärt der japanische Schauspieler und Regisseur Yoshi Oida, „man darf nicht auf seine eigene Art Theater spielen. Solange man nicht 60 ist, darf man das, was man gelernt hat, weder verändern noch interpretieren. Erst dann ist man frei.“ Das ritualisierte Nô-Theater steht in extremem Kontrast zum westeuropäischen Theater, das traditionell weitgehend psychologisierend an den Rollen arbeitet. Schon in den 60ern versuchte Oida, die engen Grenzen des musealen Theaters zu überschreiten, als er sich dem Avantgarde-Dramatiker Yukio Mishima anschloß. Anfang der 70er ging Oida dann nach Paris zur internationalen Theatergruppe Peter Brooks, die alle nur denkbaren Theaterstile verknüpft und sich dabei stets neu erfindet. Eine besondere Herausforderung für Oida, denn hier traten die kulturellen Unterschiede deutlich zutage. Im Laufe der gemeinsamen Arbeit gelang Oida jedoch die Synthese des strukturellen, körperbetonten japanischen Theaters und eines europäischen, von der Interpretation her arbeitenden Ansatzes.
Seit einigen Jahren führt er nun auch selbst Regie, inszenierte 1998 an der Berliner Schaubühne zwei Stücke Mishimas – Marquis de Sade und Hanjo. Ein Grenzgang zwischen den Kulturen: Eher an Choreographie erinnern seine Regieanweisungen, die Gesten und Abläufe minutiös festlegen wollen. Außerhalb dieser formalen Struktur bleibt den SchauspielerInnen jegliche Freiheit, ihre Rollen zu interpretieren. Scheinbar zumindest, denn Oidas Interpretation besteht gerade in der Körperarbeit.
Die Hamburger Dokumentarfilmerin Claudia Willke ist durch ihr Interesse an Bewegung – sie drehte u.a. zwei Filme über die Tänzerin Trudi Schoop – auf Oidas Arbeit gestoßen. Ihr 60minütiger Film Haben Sie den Mond gesehen? macht die kulturelle Synthese in Oidas Arbeitsprozeß deutlich und dokumentiert, welch produktive Spannung diese Art der Regiearbeit bei den SchauspielerInnen der Schaubühne auslöst. Mit Neugier und Gelassenheit lassen sie sich auch auf ungewohnte, experimentelle Probensituationen im Altersheim oder Gefängnis ein. Nur wenn der beobachtende Blick der Kamera zu aufdringlich wird, fliegt schon mal ein Kimono durch die Luft und verdeckt das Objektiv.
Karen Schulz
Premiere: heute, 19.30 Uhr, Lichtmeß; Fr, 19. März, 22.15 Uhr, Mittelrangfoyer des Thalia Theaters in Anwesenheit von Yoshi Oida
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen