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Skifahren ohne abzusetzen

Les Trois Vallées in den französischen Alpen setzt auf Superlative: die größte, die schnellste Gondel, das ausladendste Skigebiet, die verbautesten Höhen. Neue französische Gemütlichkeit gibt es in St. Martin  ■ Von Sascha Burkhardt

Kaum geht die automatische Tür der Großkabinenbahn auf, strömen die Skifahrer und Snowboarder hinein. Das Rumpeln der Skistiefel, die qualvolle Enge und der Geruch von Schweiß fordern einige einheimische Witzbolde heraus: Muhend und blökend machen sie den Touristen deutlich, daß der Unterschied zum Viehtransport vernachlässigbar ist. Zum Glück ist die Fahrt nicht allzu lang: Die Bahn zur Cime de Caron auf 3.200 Meter Höhe gehört nicht nur zu den größten Gondeln der Alpen, sondern auch zu den ganz schnellen. Schon wenige Minuten später stehen wir auf einem der höchsten Punkte des Gebiets. Les Trois Vallées ist sowieso eine Urlaubsregion, die krampfhaft auf Superlative abonniert scheint: „Das größte Skigebiet der Welt“, steht da dick auf dem Pistenplan. Und tatsächlich: 600 wirklich zusammenhängende Pistenkilometer, das ist Rekord. Skifahren ohne abzusetzen, von Berlin bis nach Bonn! Dazu kommen dann noch unzählige Varianten außerhalb der Pisten, die sich kreuz und quer über die drei Täler ziehen. In der Buchhandlung von Val Thorens gibt es ein kleines Taschenbuch zu kaufen, das rammelvoll ist mit Geheimtips von verborgenen Abfahrten.

Von der Cime de Caron führt eine ordentlich steile Schwarze zu der futuristischen Siedlung von Val Thorens, die unbedingt auch einen Rekord haben wollte. Der Skiort liegt auf 2.300 Meter Höhe: Nirgendwo anders in Europa wohnt man dem Schneegott näher! Das hat sich übrigens auch bei den teutonischen Snowfans herumgesprochen – zur Hauptreisezeit erscheint der Ort fest in deutscher Hand. In jedem Fall hat das bauliche Stilgemisch aus mehr oder weniger holzverkleideten Wohnsilos jenseits der Baumgrenze einen ganz speziellen Reiz: Wenn abends die warmen Lichter in den Fensterhöhlen vor der bläulich dämmernden Mondlandschaft angehen, scheint die Welt unten im Tal Lichtjahre entfernt. Und tatsächlich ist die Straße ins Tal nach heftigen Schneefällen öfter mal gesperrt.

An derselben Straße, ein paar Kilometer tiefer, liegt der Ort „Les Menuires“. Eine dieser Siedlungen, die den Ruf der französischen Skiorte gemacht haben. Da ist Mitte der sechziger Jahre, als sich das architektonische Pflichtenheft noch auf „Funktionalität“ beschränkte, ein Wohnsilo neben dem anderen in den winterlichen Himmel gewachsen. Damals scherte sich noch niemand um „menschliches Bauen“ oder ökologische „Symbiosen zwischen Mensch und Natur“. Im Gegenteil, schön war, was den Fortschritt und die menschliche Überlegenheit bewies – selbst auf 2.000 Meter Höhe. Der äußere Aspekt beschert Les Menuires jetzt ebenfalls ein Superlativ: „Die häßlichste Siedlung“, bemerken zumindest viele Schneefans trocken. Und kommen trotzdem immer wieder: Die Wohnungen sind etwas preisgünstiger als in Val Thorens und liegen strategisch günstig – direkt am Pistenrand zwischen dem Hyperskiberg La Masse und dem Rest der Trois Vallées.

Die Tiefschneefanatiker und Carvingfreaks, die sich die weiten Hänge des Tals der Belleville hinunterstürzen, haben sich dem vermeintlichen Schicksal gefügt. Zahlen wie 1.300 Schneekanonen, 200 Bergbahnen, 300 Pisten seien eben nicht kompatibel mit romantischen Hüttendörfchen, wie man sie aus den anderen Regionen kennt. „Man kann eben nicht alles haben“, seufzen sie und entscheiden sich doch lieber für „Ski total in Frankreich“.

„Kann man eben doch“, behaupten die Reiseveranstalter vom Kölner Club und setzen gezielt auf das kleine Dörfchen St. Martin. Das liegt etwas abseits unterhalb der gewundenen Straße, die von Moûtiers nach Les Menuires und Val Thorens führt. In dem Örtchen zieht immer noch Mistgeruch durch die verwinkelten alten Gassen. Um den Kirchturm herum gruppieren sich Chalets, einige Bauernhöfe und eine Handvoll kleiner Geschäfte wie der Bäckerladen und die Alimentation. Ein großer Teil der 1.400 Gästebetten wird von den kleinen Chalets gestellt, und die in den letzten Jahren dazugebauten Appartementhäuser sind maßvoll klein geblieben und fügen sich dezent in das Dorfbild ein. Im Gegensatz zu den Siedlungen weiter oben konnten die Architekten mit den Quadratmetern der einzelnen Appartements offenbar etwas großzügiger umgehen: „Echte Wohnungen statt Besenkammer in Bettenburg“ war die Devise.

Damit die Kuhstallromantik zum „Ski Total“ kompatibel wird, braucht's natürlich auch eine Verbindung zum Rest der Trois Vallées. Die wird durch zwei aufeinanderfolgende Sessellifte gewährleistet. Überraschung: Oben auf dem Kamm tun sich schon die Pisten von Méribel unter den Brettern auf – das Herz der Riesengebietes Les Trois Vallées ist da bereits erreicht. Seien es nun die schwarzen Rinnen oberhalb von Courchevel, die roten Buckel am Mont Vallon oder die grünen Waldabfahrten bei Méribel: Die meisten Spots der Trois Vallées liegen zum Greifen nah. Und nach Liftschluß, wenn die anderen in den höhergelegenen Siedlungen schon längst ihre Ski an die Wand gestellt haben, können die Gäste aus St. Martin noch eine kilometerlange Abfahrt in der Abendsonne abreiten.

Trotz aller Dorfbeschaulichkeit kommt das Nachtleben in St. Martin nicht zu kurz. Im „Pourquoi pas?“ zum Beispiel werden Cocktails gemischt, und im „Brewskis“ treffen sich später alle wieder, um der Crew des englischen Besitzers beim Wetttrinken zuzuschauen. Nur eine richtige Diskothek wollte das Örtchen nicht haben – schließlich sind's auf der Straße bis zum nächtlichen „High-Life“ in Les Menuires nur wenige Kilometer, und für größere Feten rückt der Bürgermeister auch schon mal den Schlüssel des Gemeindesaals heraus.

Denn schließlich will die neue Klientel gepflegt werden. Seit die Reiseveranstalter entdeckt haben, daß St. Martin mit seiner Anbindung an die Trois Vallées Ski total und Neue französische Gemütlichkeit vereinbart, strömen immer mehr Gäste in das kleine Bergdorf, dessen Einwohner nach dem Stallausmisten nicht einmal mehr zum Nebenjob nach Val Tho fahren müssen, sondern gleich vor Ort touristisches Geld verdienen können. Aber selbstverständlich will niemand die selben Fehler begehen, die vor zwanzig Jahren weiter oben gemacht wurden, wo man jetzt verzweifelt versucht, Beton mit Holz zu verschalen. Nein, St. Martin soll wachsen, aber mit Maß: ein paar hundert Betten, nicht mehr. Damit das Örtchen für immer von Rekorden jeder Art verschont bleibt!

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