: Vom Hilfslaster bleibt nur der Staub
Nach dem Wirbelsturm Mitch hat El Salvador einen Aufbauplan beschlossen. Dort kommt die Bevölkerung kaum vor. Dafür sollen Gelder in Straßenbauprojekte gehen. Die haben mit Mitch nichts zu tun ■ Aus Chilanguera und San Salvador Toni Keppeler
Die Mittagssonne brütet über dem Tal des Rio Grande – an die 35 Grad im Schatten. Aber unter dem Blechdach der Notunterkunft ist es noch heißer als in der Sonne. Nur ab und zu weht ein Windhauch durch die Halle. Der zweijährige Cristian schläft in einer Hängematte. Sanft schaukelt ihn seine Mutter hin und her. Fast alle schlafen hier um diese Zeit. Wer schläft, spürt keinen Hunger.
Cristian zuckt kurz zusammen. Er greift nach der Hand seiner Mutter und zieht sie zu sich herüber. Dann schiebt er sich ihren Daumen in den Mund und beginnt, daran zu saugen. Kurz öffnet er die Augen, dreht sich um und schläft weiter. Es gibt auch heute kein Mittagessen.
San Pedro Chirilagua liegt nur drei Kilometer hinter Chilanguera. Als der Wirbelsturm „Mitch“ Ende Oktober vergangenen Jahres über Zentralamerika hinwegfegte, war Chilanguera für El Salvador das, was der Erdrutsch am Vulkan Casitas für Nicaragua war: Ein Symbol des Schreckens und des Elends. Das Wasser, das der Rio Grande de San Miguel aus Honduras brachte und die Regenmassen, die gleichzeitig vom Himmel stürzten, rissen das halbe Dorf mit sich. Die Hälfte der 240 Toten, die „Mitch“ in El Salvador hinterließ, wurden allein in Chilanguera gezählt.
Aber nicht nur in Chilanguera wurden Häuser weggespült. Auch im benachbarten San Pedro Chirilagua. Und gemeinsam mit den Häusern gingen Rinder und die gesamte Ernte den Fluß hinunter. Auch die Hütte von Manuel Romero steht nicht mehr. Hilfe hat er bis heute nicht bekommen. Chilanguera zog die ganze Aufmerksamkeit auf sich. „Ich habe viele Laster vorbeifahren sehen“, sagt Romero. „Aber keiner hat angehalten, um auch nur ein Pfund Reis abzuladen. Für uns blieb nur der Staub übrig, den sie aufgewirbelt haben.“
Doch auch in Chilanguera herrschen Not und Verzweiflung. Siebzig der 366 Familien, die beim Hochwasser ihre Bleibe verloren haben, wohnen noch immer in Notunterkünften: Unter Zeltplanen oder in kleinen Quadern aus Wellblech, die jetzt im tropischen Sommer eher als Backofen taugen. Der Rest ist bei Verwandten untergekommen oder hat sich notdürftig in Hütten aus Geäst und Plastikplanen eingerichtet. Noch immer sieht das Dorf so aus, als sei das Unwetter erst vergangene Woche darüber hinweggezogen: Entwurzelte Bäume, Lehmhütten mit weggebrochenen Wänden und eingefallenen Ziegeldächern, überall viel Geröll.
Am Rand des Dorfes aber ist eine Fläche eingeebnet worden – größer als ein Fußballfeld. Der Unternehmerverband Anep spendierte 250 Einfachhäuser, die später unter den betroffenen Familien verlost werden sollen. Je 36 Quadratmeter für eine im Durchschnitt achtköpfige Familie. Demnächst soll mit dem Bau der Häuser begonnen werden.
Gleich nach der großen Flut und dann noch einmal vor Weihnachten, erzählt Gumercindo Márquez, da seien Gott und die Welt nach Chilanguera gekommen. Selbst Präsidenten-Gattin Elizabeth de Calderón. „Fast alle haben sie Spielzeug gebracht für die Kinder. Die haben jetzt so viel Spielzeug wie nie zuvor in ihrem Leben.“ Heute kommt nur noch „alle zehn Tage ein Lastwagen. Was er hier läßt, reicht meistens nicht aus für alle.“ Lebensmittel sind noch immer knapp in Chilanguera. „Wo ist bloß die millionenschwere Hilfe?“ fragt Ezequiel Gómez.
Gómez würden die Augen über und das Wasser im Mund zusammenlaufen, wenn er in der nahen Provinzhauptstadt San Miguel den Speicher des mit der Lebensmittelhilfe-Verteilung beauftragten Familiensekretariats der Regierung sehen könnte. Dort stapeln sich Säcke von Reis, Mais, Bohnen und Zucker bis unter die Decke. Bei näherem Hinsehen aber würde Gómez wohl in Tränen ausbrechen. Denn ein Teil des Reises ist schon schwarz vor Schimmel.
Wenn das Familiensekretariat die Ware vom Zentrallager der Hauptstadt in die Provinzen befördert hat, gelten die Lebensmittel als verteilt, sagt ein Mitarbeiter der Welthungerhilfe der Vereinten Nationen. Was dann damit passiert sei, habe niemanden mehr gekümmert. Die Welthungerhilfe hat nach dem Hurrikan insgesamt rund zwei Millionen Tonnen Lebensmittel nach El Salvador gebracht. Einen Monat nach der Katastrophe war noch nichts davon bei den Bedürftigen angekommen. Man habe deshalb beschlossen, weitere Hilfe von regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) verteilen zu lassen. „Wir und unsere Spender sind an Ergebnissen interessiert“, sagt Guy Gauvreau, der Welthungerhilfe-Repräsentant in El Salvador. „Deshalb mußten wir dem Familiensekretariat die Verantwortung für die Verteilung entziehen.“
Carolina Ramirez, beim Familiensekretariat für das Lebensmittelprogramm zuständig, will von Schlamperei nichts wissen. „Ich glaube, wir haben Wunder vollbracht“, sagt sie stolz. „Wir haben unser Blut, unser Herz, ja unser Leben für diese Arbeit gegeben.“ Warum die Welthungerhilfe nicht damit zufrieden war, kann sie nicht verstehen. Einstweilen tut man deshalb so, als wäre nichts geschehen.
Eine Koordination mit den nun in der Verteilung engagierten NGOs findet nur auf dem Papier statt. In der Ortschaft Tierra Blanca etwa, erzählt Dagoberto Reyes von „Care“, habe seine Hilfsorganisation Lebensmittel für zehn Tage abgeladen. Zwei Tage später sei dann das Familiensekretariat mit einer ähnlichen Fuhre gekommen. „Es ist eine Sünde, wenn man Bedürftige alleine läßt“, sagt Reyes. „Aber es ist genauso eine Sünde, wenn man ihnen doppelt hilft und so anderen das Notwendigste vorenthält.“
Vorsitzende des Familien-Sekretariats ist kraft Heirat die Präsidenten-Gattin Elizabeth de Calderón. Als sie Anfang Februar zur Berichterstattung vors Parlament zitiert wurde, gab sie immerhin „ein paar Schwierigkeiten“ bei der Registrierung der Hilfsbedürftigen zu. Das Familiensekretariat geht von 65.000 Mitch-Geschädigten aus. Die Welthungerhilfe dagegen hat 95.000 gezählt. Vor allem in Gegenden, in denen demobilisierte Kämpfer der ehemaligen Guerrilla der FMLN angesiedelt worden waren, fanden die staatlichen Zähler nur wenig Geschädigte. Entsprechend haben diese Gemeinden, so der FMLN-Abgeordnete Oscar Ortiz, „bis heute keine oder so gut wie keine Hilfe bekommen“.
Solche Ungereimtheiten gibt es nicht nur bei der Lebensmittelhilfe. Widersprüche finden sich auch in der Berechnung der Schäden. So werden die Verluste in der Landwirtschaft vom Agrar-Ministerium auf 85 Millionen Dollar beziffert. Die Landwirtschaftskammer geht dagegen von nur 45 Millionen aus. Genauso paßt in den Wiederaufbauplänen nicht alles zusammen. Eine von der Regierung eingesetzte unabhängige Gutachterkommission hatte den vom Unwetter angerichteten Schaden zunächst auf 1,3 Milliarden US-Dollar hochgerechnet. Im Wiederaufbauplan, den die Regierung danach für internationale Geldgeber wie die Europäische Union zusammengestellt hat, werden dagegen 2,2 Milliarden Dollar genannt.
Der Wunschzettel enthält erstaunliche Details. Für die Renovierung des Krankenhauses im nahe der Hauptstadt gelegenen Santa Tecla etwa werden 23,7 Millionen Dollar beantragt, für die Lungenklinik des hoch über der Hauptstadt gelegenen Los Planes de Renderos weitere sieben Millionen. Und 8,1 Millionen Dollar sollen in das Feuerwehrhaus von San Salvador gesteckt werden. Als „Mitch“ über Zentralamerika zog, hat es zwar auch in San Salvador und Umgebung geregnet. Aber kaum mehr, als in sonstigen tropischen Wintern auch. Keines der drei genannten Gebäude wurde vom Wirbelsturm in Mitleidenschaft gezogen.
Auch die Straßenbauprojekte, die internationalen Geldgebern angeboten werden, haben mit „Mitch“ oft nicht das Geringste zu tun. So taucht die erst kürzlich fertiggestellte Autobahn von San Salvador ins nördlich gelegene Apopa genauso auf wie die Straße von San Salvador in die Hafenstadt La Libertad. Schäden lassen sich dort nicht erkennen. Aber seit Jahren denkt man im Ministerium für öffentliche Arbeiten über einen Ausbau dieser Straße nach. Auch eine Brücke in dem nördlich der Hauptstadt gelegenen Tonacatepeque soll mit „Mitch“-Hilfsgeldern wieder aufgebaut werden. Die aber wurde nicht von Wassermassen weggespült. Sie war schon vor dem Unwetter zusammengebrochen, als ein überladener Lastzug darüber fuhr. Der Name Chilanguera dagegen steht übrigens kein einziges Mal auf diesem Wunschzettel.
Nach Chilanguera, wie zu den meisten von „Mitch“ betroffenen Orten, führte bislang keine geteerte Straße, und es wird auch in Zukunft keine geben. Die Mehrheit der Geschädigten sind Kleinbauern aus dem unteren Lempa- Tal und dem Tal des Rio Grande. Sie haben ihre Ernten verloren, ihre Rinder, und oft auch ihre Hütten. Für diese rund 12.000 Familien, denen keine Bank je einen Kredit gibt, sind im Aufbauplan gerade 10 Millionen Dollar vorgesehen – das macht im Durchschnitt 833 Dollar pro Familie.
Dafür hat man den betroffenen Gemeinden eine Regulierung der Flüsse versprochen. Katastrophen wie die des vergangenen Oktobers sollen sich nicht noch einmal wiederholen. Den Bewohnern im unteren Lempa-Tal verspricht man das schon seit Jahren. Und seit Jahren werden sie regelmäßig im Winter überflutet. Bis heute lassen sich weder am Lempa, noch am Rio Grande Erdarbeiten für Drainagen oder Dämme entdecken. Bis zur nächsten Regenzeit ist es nicht mehr weit. Ende April, spätestens Anfang Mai, wird sie beginnen. Und die diesjährige Hurrikan-Saison, sagen Metereologen voraus, könnte sogar noch schlimmer werden als die von 1998.
Rund 15 Kilometer südlich von Chilanguera, an der Küste des Pazifischen Ozeans, liegt der Badeort El Cuco. Die Straße, die von der Provinzhauptstadt San Miguel kommt, ist geteert. Nach dem Aufbauplan der Regierung soll ein Teil davon demnächst einen neuen Belag bekommen.
Jetzt, in der heißen Trockenzeit, füllt sich El Cuco jedes Wochenende mit viel Publikum. Reiche Leute aus der Provinzhauptstadt besitzen dort nämlich Strandhäuser. Die Restaurants machen riesigen Umsatz und Bombengeschäfte. Ihre Gewinnspanne ist in dieser Saison noch viel größer geworden. Care-Mitarbeiter Reyes kamen bei einem Ortstermin die Speiseöl-Kanister und die Säcke mit Reis und Zucker, die in den Küchen standen, nur allzu bekannt vor. Er guckte dann etwas genauer hin. Der Aufdruck auf den Kanistern verriet, daß sie aus Hilfssendungen für „Mitch“-Opfer abgezweigt worden waren.
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