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Wer A sagt, muß nicht B sagen

■ Lehren aus Rambouillet (2): Für einen Nato-Einsatz im Kosovo wird das Völkerrecht strapaziert – für eine Intervention in der Türkei nicht

Es ist schon erstaunlich, wie schnell Positionen geräumt werden. Über fast zehn Jahre wurde – zum Teil heftig und verbissen – über internationale militärische Interventionen debattiert. Und nun, wo möglicherweise schon bald unter arger Strapazierung, wenn nicht sogar Bruch des geltenden Völkerrechts auch deutsche Kampfpanzer außerhalb des Nato- Gebiets zum Einsatz kommen, muckst gerade noch die PDS auf. Sie hält eine Position aufrecht, die bei Grünen wie in der SPD vor einem Jahr noch Konsens war.

Zwar geht von Milosevic' Regime zweifellos eine Bedrohung für den Frieden aus, der nach Kapitel VII der UN-Charta eine Intervention völkerrechtlich legitimieren könnte. Doch müßte diese vom UN-Sicherheitsrat angeordnet oder wenigstens genehmigt werden. Und da macht Rußland aus schnöden innenpolitischen Erwägungen nicht mit. Also mandatiert sich die Nato selbst.

Daß dies so klanglos über die Bühne geht, hat mit dem „bosnischen Trauma“, der moralischen und politischen Kapitulation des Westens im Fall Bosnien, zu tun. „Nie wieder“ heißt nun die Parole der westlichen Diplomatie. Nie wieder dürfen in Europa Hunderttausende getötet und Millionen vertrieben werden, nie wieder Srebrenica – und vor allem: Nie wieder wollen wir Hunderttausende Flüchtlinge.

Im Kosovo sind bisher etwa 2.000 Menschen getötet worden – in Bosnien waren es hundertmal mehr. Der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic hat post festum offen zugegeben, daß kurz nach dem Ausbruch der Kämpfe, als die ersten Rufe nach einer Intervention ertönten, ein paar tausend Nato-Soldaten gereicht hätten, um ihn zur Kapitulation zu zwingen. Als die Nato dann schließlich drei Jahre nach Kriegsausbruch eingriff, konnte sie gerade noch die Durchsetzung eines Friedensschlusses erreichen, der die von serbischer Seite militärisch geschaffenen Tatsachen größtenteils akzeptierte.

Auch im Kosovo wurde wertvolle Zeit vertan. Acht Jahre lang hat der international nicht anerkannte „Präsident“ der Albaner, Ibrahim Rugova, den Westen gebeten, sich einzumischen. Acht vergeudete Jahre, weil der Westen auf Milosevic als Stabilitätsfaktor baute und schließlich den Kosovo auf dem Altar von Dayton opferte. Erst der bewaffnete Widerstand der Albaner, den der Potentat von Belgrad im Sommer mit der Zerstörung Dutzender Dörfer und der Vertreibung Hunderttausender Menschen, mit Kriegsverbrechen also, beantwortete, hat den Kosovo auf die internationale Tagesordnung gesetzt. Und wie in Bosnien ist nun im Kosovo eine Befriedung ungleich schwieriger (und auch ungleich teurer), als man sie hätte haben können.

So bleibt nun gar nichts weiter übrig, als unter hohem militärischem Einsatz eine politische Lösung durchzusetzen, wenn man nicht eines Tages wieder Hunderttausende von Toten und Kriegsflüchtlingen registrieren will. Die Gefahr, daß ein offener Krieg zwischen Albanern und Serben die Landesgrenzen überschreitet, ist zudem beträchtlich größer, als sie in Bosnien je war.

Wer strikt auf der Befolgung der Buchstaben des Völkerrechts besteht, muß sich fragen lassen, wieviel Tote ihm dies notfalls wert ist. Es gibt einen erbarmungslosen Pazifismus, der über Leichen geht. Auf der andern Seite gibt es eine unangefochtene Weltmacht, der die Bosnier zwar zum großen Teil ihren prekären Frieden zu verdanken haben, die andererseits aber mindestens seit dem zweiten Golfkrieg die UNO für ihre Interessen instrumentalisiert und sich um Völkerrecht im Notfall foutiert.

Letztlich könnte nur eine Reform der UNO und vor allem ihrer obersten Entscheidungsinstanz, des Sicherheitsrats (dessen Zusammensetzung ja ein Produkt des Sieges über Nazideutschland und Japan ist), aus diesem Dilemma heraushelfen. Eine solche Reform allerdings ist nicht in Sicht, allein schon weil die Machthaber in der UNO auf ihr Vetorecht nicht verzichten wollen. Und so werden sich nach dem Kalten Krieg, für den diese UN-Entscheidungsstrukturen insofern einigermaßen taugten, als das Gleichgewicht des Schreckens für eine gewisse Stabilität sorgte, mit der Internationalisierung der Gefahrenherde die völkerrechtlichen Grauzonen ausweiten.

Und an Gefahrenherden gebricht es nun wirklich nicht. Warum gibt es – um das naheliegendste Beispiel zu nennen – kein Rambouillet für die Türken und die Kurden? Müßte man nicht der Türkei eine militärische Intervention androhen, wo doch Zehntausende getötet und Hunderttausende vertrieben wurden? Wo eine Armee grenzüberschreitend eine Guerilla verfolgt, deren Forderungen zudem viel weniger radikal als jene der Albaner sind? Man könnte, aber man muß nicht. Oder andersherum: Man darf nicht erst dann irgendwo eingreifen, wenn man überall einzugreifen bereit ist.

Wer abstrakte Prinzipien – wie Schutz vor Kriegsverbrechen, vor Völkermord oder „ethnischer Säuberung“ etwa – durchsetzen will, hat es immer mit konkreten Optionen zu tun, bei denen Folgewirkungen und Erfolgschancen abgeschätzt werden müssen. Politik, die sich zudem ja in der Regel nicht nur von humanitären, sondern auch von handfesten Interessen leiten läßt, ist stets auch die Kunst des Machbaren. Wer erst helfen will, wenn er allen helfen kann, hilft letztlich nämlich gar niemandem.

Sowohl die Strapazierung des Völkerrechts wie auch die selektive Intervention sind Ausdruck eines pragmatischen Vorgehens. Auf ein solches aber ist auch eine Politik, die Prinzipien durchsetzen will, immer zurückgeworfen. Mit dieser Diskrepanz zwischen konkreter Politik und abstrakten Werten ist allerdings ein Problem der Glaubwürdigkeit verknüpft.

Wer das Völkerrecht derart strapaziert, muß auch alle Energie darauf verwenden, dieses dem gestiegenen Interventionsbedarf anzupassen. Sonst droht tatsächlich eine neue Ära der Kanonenbootpolitik. Wer jetzt von einer Ausnahme spricht, die kein Präzedenzfall sein soll, verkennt, daß jede Ausnahme im Notfall zum Präzedenzfall wird. Und was die Selektion des Casus belli betrifft: Wer im Kosovo militärisch intervenieren will, muß auch die Kriegsverbrechen in der Türkei auf die Tagesordnung internationaler Politik setzen. Denn gerade weil es in den Niederungen des Alltags immer eine Politik des „double standards“ geben wird, müssen die ethischen Werte, an denen sich die Politik orientiert, kompromißlos zum Thema der Auseinandersetzung gemacht werden. Thomas Schmid

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