: Pluralität als Herausforderung
■ Ist unser Geschlecht diskutierbar? Nur solange Körper, Verhalten und sexuelles Begehren übereinstimmen, ist klar, was „Frau“ bedeutet
Viele waren begeistert, viele entsetzt, als die US-Gender-Theoretikerin Judith Butler Anfang der Neunziger in die feministische Debatte warf, „Geschlecht“ sei Ergebnis des täglichen Agierens einer Illusion. Nicht „Natur“ oder zwei „Geschlechter“, sondern erst der Diskurs über „Frauen“ und „Männer“ konstruiere diese als reale Gegebenheiten. Butlers Theorie bricht mit der Pose scheinbarer Eindeutigkeit und erteilt den Identitäten „Frau“ und „Mann“ und allen Identitätshoffnungen eine Absage.
Solange jemand wie eine Frau aussieht, sich wie eine Frau verhält und einen Mann liebt, also Körper, Sozialverhalten und heterosexuelles Begehren übereinstimmen, scheint klar, was „Frau“ ist. Was aber ist mit denen, die die Kohärenz von „sex“, „gender“ und „performance“ nicht vorweisen?
Bislang stellten nicht einmal Schwule, Lesben, Bi-, Transsexuelle und andere AbweichlerInnen die Existenz zweier Geschlechter in Frage. Butler tut es. Der Feminismus, sagt sie, muß nicht wissen, „wer“ Frauen sind. „Frau“ ist nichts anderes als ein taktischer Begriff, keine Wesensbezeichnung von Menschen, keine Definition von Personen, keine Grundlage des Feminismus, keine Rechtfertigung von Identitätspolitik.
Die Dekonstruktionsidee braucht eine spielerische Haltung zu festgefahrenen Dingen. Mit Vorschlägen zur subversiven Geschlechterkonfusion und Störpraxis, zum „genderhopping“ und „transgender“, zum Geschlecht als Maskerade, Inszenierung und Parodie kann nur etwas anfangen, wer Lust am Gelächter, an verrückten Gedanken und Handlungen hat – und Sinn dafür, daß Denken Spaß machen kann, immer unfertig, spekulativ und riskant ist, immer wieder von vorn anfangen muß.
Butlers Theorien und Konsequenzen irritierten die Grundfesten einer zuweilen etwas biederen Frauenpolitik. Den GeschlechtspuritanerInnen ist das alles zu unernst, und sie haben immer das korrekte Argument auf ihrer Seite: die harte Realität. So ist vielen bis heute die Debatte zutiefst suspekt, zu intellektuell, elitär, zersetzend, eine praxisferne Spinnerei, entpolitisierend, außerdem amoralisch. Der Frauenbewegung werde ihr Subjekt gestohlen, das ohnehin zerbrechliche Wir-Gefühl nehme Schaden, die Sorge um die Geschlechtergerechtigkeit werde verraten, Arme und Besitzlose hätten von solchen Ideen gar nichts, Butler und ihre Anhängerinnen seien von allen guten machtanalytischen Geistern verlassen.
Der Ärger ist verständlich. Die Identität „Frauen“ anzunehmen war schließlich Ausgangspunkt harterkämpfter Wissenschafts- und Politikressorts, und darüber hinaus ist der Glaube an eine Frauenidentität für viele zum Zentrum der Selbstfindung geworden. Wie üblich werden Veränderungen einer politischen Bewegung sofort mit ihrem Ende gleichgesetzt. So finden sich die Dekonstruktionsideen als erschreckendes oder erfreuliches Symptom des Abschieds gedeutet, so wird mit ihnen das Einläuten des postfeministischen Stadiums – je nach Standort – beweint oder bejubelt: Wenn es „Mann“ und „Frau“ nicht gibt, gibt's auch keinen Feminismus.
So einfach sind die Dinge zum Glück nicht. Butlers Thesen schlugen bei einigen wie reinigende Blitze ein, bei anderen fielen sie einfach auf vorbereiteten Boden. Die Gedanken zur Geschlechterdekonstruktion sind in eine Zeit geraten, in der die feministische Bewegung nach Neuorientierungen suchte. Die dogmatischen Postulate fingen an zu lähmen, die separatistische Praxis begann an sich selbst zu ermüden, Identitätsdifferenzierungen wuchsen ins Absurde. Vor allem die vehementen Auseinandersetzungen über eurozentrische, rassistische und antisemitische Tendenzen in der Frauenbewegung stellten manche Übereinkünfte und jeden Alleinvertretungsanspruch grundsätzlich in Frage – und auch eine Identitätspolitik, die mit dem Ausschluß anderer verbunden ist.
Die Eindeutigkeit feministischer Unrechtsordnung geriet ins Wanken, die geschlechtssaubere Kategorisierung und Trennung von Opfern und Tätern, Ohnmacht und Macht, Schäden und Vorteilen, Leiden und Profitieren ließ sich nur mit Scheuklappen halten. Die Konstruiertheit der Kategorie Geschlecht war keine Idee, die vom Himmel fiel. Sie brachte alte Zweifel auf den Begriff, schaffte eine Verbindung zu anderen totalisierenden Akten wie dem Rassenkonstrukt. Es ist schwer abzuschätzen, wohin die vielen Verunsicherungen die einzelnen geführt haben. Sie entstammte gerade nicht einem akademische Diskurs, sondern der Realität.
Heute haben sich die Wogen geglättet, Butler ist ins Grundstudium der Gender-Studies eingegangen, und viele neue Namen haben den postmodernen Geschlechterdiskurs aufgenommen, differenziert, relativiert, modifiziert. Das Spektrum der Reaktionen reicht von tapferer Ablehnung über verkniffene Duldung bis zum Versuch, Pluralität auch für die zur Einheit gezwungene oder sich zur Einheit zwingen lassende Kategorie „Frau“ einzufordern. Dieser Versuch ist neu. Denn solange die Kategorie Geschlecht als unumstößlich gilt, verleitet oder verpflichtet sie auch zu den Beschränkungen eines dichotomen Denkens, mit dem mit fabriziert wird, was wir abschaffen wollen: nicht unbedingt „das Geschlecht“, aber die Geschlechterhierarchie. Diese aber setzt voraus, daß die Unterscheidungswürdigkeit zweier Geschlechter etabliert ist und weiter gefüllt wird.
Der Wert der Debatte liegt nicht darin, sich überraschend mit Kleid oder Schlips zu kleiden und mal aus dem geschlechtsüblichen Rahmen zu fallen, sondern in der Zurückweisung aller Kategorien, die Menschengruppen zum kollektiven Singular machen wollen. Insofern gehen Butlers Anstöße weit über die Geschlechtsfrage hinaus. Geschlechtsidentität als „Imitation ohne Original“ zu kennzeichnen und so die Kultur wie die Biologie in ihrer Kraft zu entwerten, hierarchische Kategorien zu legitimieren schafft die politische Verbindung zu anderen Totalitarismen wie dem Rassismus und Antisemitismus. Und diese Zusammenhänge sind heute aus der feministischen Kritik nicht mehr wegzudenken. Die verbreitete Befürchtung, die Dekonstruktionstheorien seien und machten „zu liberal“, entlarvt nur die Schwierigkeit, Pluralität als größte Herausforderung des Politischen zu begreifen statt als Mangel an Radikalität und Entschiedenheit. Insofern ist der Feminismus nicht am Ende, sondern wieder am Anfang: der Herrschaftskritik. Christina Thürmer-Rohr
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