: Visionen von Licht, Luft, Sonne
Architektur und Städte in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg negierten das Nazierbe. So entstanden Grünflächen in Metropolen und zersiedelte Großdörfer auf dem Land. Aber auch in der neuen Urbanität der Postmoderne wurde vergessen, daß Städte nicht zuerst durch ihre Bauten leben, sondern durch ihre Bewohner. Teil VII der Serie „50 Jahre neues Deutschland“ ■ Von Uwe Rada
Meine erste Erfahrung mit Architektur und Städtebau machte ich als Fünfzehnjähriger in Eislingen/Fils, einer schwäbischen Kleinstadt mit 18.000 Einwohnern. Damals, es war 1978, bemühte ich mich um Iris, und das Schwierige an dieser Geschichte war, einen Ort für meine Bemühungen um sie zu finden. Das Jugendzentrum (JuZe) im restaurierten „Schloß“ paßte nicht, weil meine Angebetete, die Tochter eines neureichen Bäckers, zwar auf Schlösser stand, nicht aber auf JuZe und Jute. Aber auch das Eislinger Stadtzentrum kam mir wenig entgegen, weil man zu dieser Zeit Urbanität noch als Kreuzung zweier Straßen mit einem dahingeworfenen Neubau der Kreissparkasse verstand.
Blieb uns also nur der Budenzauber aus Bratwurstduft und Brettergassen: Der Weihnachtsmarkt war am ehesten geeignet für ein erfolgversprechendes Rendezvous. Selbst die „Überführung“, eine riesige Autobrücke über die Bahntrasse, stellte sich mir im vorweihnachtlichen Eislingen eher als Symbol der Verbindung denn der Trennung dar. Allein, Iris kam nicht. In diesem Moment muß der Wunsch entstanden sein, in eine richtige Stadt zu ziehen.
Jahre später, es war 1983, hatte ich es geschafft, war in Berlin und stand am U-Bahnhof Hansaplatz. Dort suchte ich den Weg zur Akademie der Künste. Schon während meiner ersten Tage im Westen der Stadt hatte ich den Eindruck, als wäre ich auf eine Reise in die Vergangenheit geraten. Wohin ich auch guckte: Bombenlücken, zerschossene Fassaden, Provisorien: Hier war die Nachkriegszeit noch an jeder Straßenecke spürbar; nur Trümmerfrauen gab es nicht mehr.
Und dann das Hansaviertel: schmale Hochhausscheiben, gemixt mit groben Klötzen, dazwischen Straßen, irgendwo im Grün versteckt. Manche Häuser glichen übereinandergestapelten Schuhkartons, andere hatten Fenster, die so groß waren (und sind) wie Schießscharten. Wenn es denn stimmte, daß die Funktion die Form moderner Architektur bestimmte, dann muß die Funktion dieser Gebäude, Menschen ein Dach über dem Kopf zu verleihen, unendlich einförmig sein.
Strenger hätte man sich eine Nachkriegsordnung nicht vorstellen können. Ganz anders dagegen die Verteilung der Gebäude auf der zur Verfügung stehenden Fläche des historischen Viertels. Hier war alles scheinbar wahllos aneinander vorbei gruppiert.
Konnte da noch von Stadt gesprochen werden? Und zwar von einer richtigen Stadt – urban, quirlig, auf jeden Fall nicht ländlich und beschaulich. Sollte es tatsächlich so gewesen sein, daß ich aus Eislingen geflohen war, nur um mitten in Berlin die Orientierung zu verlieren?
Erst später erfuhr ich, daß die zur Internationalen Bauausstellung 1957 errichtete Stadtlandschaft eine der modernen Antworten auf die baulichen Hinterlassenschaften der Vergangenheit sein sollte. Eine Antwort auf die Mietskasernen der Kaiserzeit ebenso wie auf die monumentale Herrschaftsarchitektur der Nazis. Doch was half es mir, angesichts des Nebeneinanders der Berliner Architekturschichten, gelernt zu haben, daß der Erbauer meiner Eislinger Schule, der Sachlichkeit wegen, ein Demokrat gewesen sein muß und der Erbauer der „Überführung“, seiner Verkehrsgläubigkeit wegen, ein Sozialdemokrat? Wäre es in Berlin mit Iris besser gelaufen?
Mittlerweile blickt die Bundesrepublik auch auf fünfzig Jahre Architektur und Städtebau zurück. Berlin ist als chronisches Provisorium das beste Beispiel, um eine Bilanz dieses halben Jahrhunderts zu ziehen. So gilt in deutschen Landen noch immer: Der Stein bestimmt das Bewußtsein. Hinter dieser fast erdbebensicheren Selbstüberschätzung traten selbst die für Architekten so typischen Richtungsstreitigkeiten in den Hintergrund.
Ob die Traditionalisten unter Berufung auf Paul Bonatz oder Paul Schmidthenner zerstörte Städte wie Freudenstadt, Freiburg, Münster oder Lübeck auf altem Grundriß wiederaufbauten oder die Vertreter der Moderne wie Egon Eiermann oder Paul Baumgarten auf den Fortschritt der Demokratie durch den Fortschritt der Technologie setzten – dieser Unterschied verblaßte angesichts der gemeinsamen Auffassung, daß eine Stadt zunächst aus ihrem bebauten Raum bestehe und erst dann auch ein Ort für Menschen sei.
Vielleicht klang deshalb einer der letzten Sätze von Bundespräsident Roman Herzog so unerhört revolutionär. Eine Stadt, sagte der oberste Repräsentant des Landes anläßlich der Eröffnung des neuen Potsdamer Platzes in Berlin, bestehe nur zu einem Drittel aus ihren Gebäuden, zu zwei Dritteln aber aus ihren Menschen.
Weitgehend unerhört war ein ähnlicher Mahnruf bereits einige Jahrzehnte zuvor geblieben. 1965 hatte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich den Stab über die Scheinsynthese von demokratischer Gesinnung und moderner Architektur gebrochen und in einer polemischen Schrift die „Unwirtlichkeit der Städte“ beklagt.
Nicht zufällig hatte Mitscherlich, ähnlich wie zuvor schon Jane Jacobs in ihrem Buch „Tod und Leben großer amerikanischer Menschen“, die Zukunft der Stadt an die des Menschen geknüpft. Seine Streitschrift endete mit einer offenen Frage: „(Der Mensch) bleibt vielleicht am Leben, die Frage ist aber, ob als freier, als einer also, der mit diesem Wort Freiheit noch einen Sinn und ein Ziel verbindet.“ Was aus dem „Biotop unserer Städte“ werde, so Mitscherlich, „trägt zu der Entscheidung bei, welche Seite in diesem Geschichtsabschnitt den Wettlauf gewinnt“.
Mitscherlichs Warnung kam zu einer Zeit, in der die Devise von Walter Gropius, Architekt des Dessauer Bauhauses und 1957 an der Erbauung des Hansaviertels beteiligt, endgültig das Gesicht der deutschen Städte zu bestimmen drohte. „Die Mehrheit der Bewohner hat gleichartige Lebensbedürfnisse“, schrieb Gropius schon 1927.
Und weiter: „Es liegt daher im Sinne eines wirtschaftlichen Vorgehens, diese gleichartigen Massenbedürfnisse einheitlich und gleichartig zu befriedigen. Es ist also nicht gerechtfertigt, daß jedes Haus einen anderen Grundriß, eine andere Außenform, andere Baustoffe und einen anderen ,Stil' aufweist.“
Fand der gleichmacherische Schlachtruf bei den Architekten der Nachkriegsmoderne anfangs lediglich in folgenlosen Plänen wie dem Architektenwettbewerb „Hauptstadt Berlin“ von 1957 oder in einigen wenigen innerstädtischen Neubauprojekten Niederschlag, rückte mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 auch der Stadtrand ins Visier der Planungen im Namen von Licht, Luft und Sonne.
Was aus den „gleichartigen Bedürfnissen“ und ihrer architektonischen Befriedigung geworden ist, läßt sich heute in Großsiedlungen wie Köln-Chorweiler oder der Gropiusstadt im Berliner Bezirk Neukölln beobachten – Steinwüsten ohne größere Lebenszeichen. Und dennoch: So unvorstellbar es für meine Generation war, in einer dieser Neubauten zu leben, so sehr haben es viele gerade junge Menschen aus der Generation meiner Eltern als eine Verbesserung ihrer Lebensqualität ersehnt, aus den lichtlosen Wohnungen der Gründerzeitquartiere fliehen zu können.
Neubauten heute: Sie haben feines Stabparkett, großflächige Fenster aus Holz und mehrere gleich große Räume. So etwas gibt es noch nicht so lange. Nicht mehr die sozialdemokratischen Kleinfamilien werden in der Friedrichstadt oder am Potsdamer Platz mit Wohnraum versorgt, sondern solvente Singles oder berufstätige Paare ohne Kinder. Die Fassaden dieser Bauten sind abwechselnd mit Naturstein oder Glas verkleidet und ergeben in ihrer Summe wieder richtige Straßen, ganze Blöcke – Stadt.
Auf den Straßen gibt es Designergeschäfte, schicke Einkaufspassagen und feine Restaurants. Ohne Zweifel, die Moderne ist überwunden, und deren Kinder haben wieder das Wohnen im Neubau entdeckt. Aber ist die Stadt, seitdem die Postmoderne mit ihrer „Wiederentdeckung der Innenstädte“ und ihrer „neuen Urbanität“ den Siegeszug angetreten hat, wirtlicher geworden?
Alexander Mischerlich selbst war kein Protagonist eines Urbanismus à la Pasta & Grappa wie etwa der Berliner Stadthistoriker und Planer Dieter Hoffmann-Axthelm. Mitscherlich war, viel mehr als ein Wegbereiter der Postmoderne, ein Mentor einer ganz anderen Phase der Stadtentwicklung, die mit dem Triumph des neuen Urbanismus bereits wieder zu Grabe getragen worden war: der Erneuerung der Städte unter strikter Beteiligung ihrer Bewohner. Eine Erneuerung, die losgelöst ist von der Frage, in welchem Stil denn da erneuert oder neugebaut wird. Es war die kurze Phase, in der auch im Städtebau der Marxsche Satz galt: Das Sein bestimmt das Bewußtsein.
Neulich war ich wieder in Eislingen. Das JuZe gibt es immer noch und auch die „Überführung“. Aber auch im Eislinger Gemeinderat ist inzwischen die Generation eingezogen, die in den späten sechziger Jahren angetreten war, die Bundesrepublik gründlich zu erneuern, oder, wie in Eislingen, deren architektonische Gründungszeugnisse behutsam zu ergänzen. Weil man zum Beispiel erkannt hat, daß die „Überführung“ die beiden Stadthälften Eislingen-Nord und Eislingen-Süd doch eher trennte als miteinander verband, wurde unter die Überführung eine Fußgänger- und Radfahrerunterführung gebaut.
Um die neue Eislinger Urbanität abzurunden, bekam der Bahnhof einen Kiosk, und die alte Post wurde zum Kulturzentrum umgebaut. Selbst von der postmodernen Straßenmöblierung mittels Parktaschen und hübschen Straßenlaternen blieb Eislingen nicht verschont.
Offenbar hatte sich auch in deren Gemeinderat der Pasta-&-Grappa-Urbanismus durchgesetzt: Wir gehören alle zu einem globalen Dorf. Nun also bestimmt auch in Eislingen das Design das Bewußtsein. Nur ein Einkaufszentrum und ein Multiplexkino fehlen noch.
Was ist also aus dem „Biotop unserer Städte“ geworden? Hat die Freiheit, von der Mitscherlich gesprochen hatte, noch einen anderen Sinn und ein anderes Ziel außer dem, an den Stadtrand zu ziehen? Oder in den schickgemachten innerstädtischen Zitadellen dem Geist der alten Übersichtlichkeit hinterherzuflanieren, streng getrennt von den Armutsquartieren der Verlierer? Ist es denn wirklich so, wie der Literaturwissenschaftler Klaus Scherpe behauptet, aus der „Unwirtlichkeit der Städte“ sei die „Unwirklichkeit der Städte“ geworden?
Ist Eislingen, diese amerikanischste aller deutschen Städte, die ich kenne, tatsächlich überall? Zumindest meine Mutter hat diese Frage mit Nein beantwortet. Nach 65 Jahren Eislingen überlegt sie nun manchmal, ob sie nicht die Stadt wechseln soll. Tübingen zum Beispiel würde ihr gefallen. Dort, sagt sie, sind die Straßen belebt, und Cafés gibt es auch. Iris ist längst aus Eislingen weggezogen.
Uwe Rada, 35, einer von Tausenden schwäbischen Immigranten in Berlin, arbeitet momentan als Chef vom Dienst in der Berlinredaktion der taz. Jüngste Veröffentlichung: Die Urbanisierung der Angst in: Volker Kirchberg/Albrecht Göschel: „Kultur in der Stadt“, Leske & Budrich, Opladen 1998, 256 Seiten, 44 Mark
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